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Kisch – ein Jahrhundert-Journalist

Nichts als die Wahrheit

Kisch – Briefe an Jarmila

Vor 70 Jahren – Landung in Australien

Vorhang auf für Egon Erwin Kisch

Verwandte und Bekannte

Artikel – Kommentare – Reportagen

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Kischs Freundin Jarmila, Vertraute und von ihm autorisierte Übersetzerin seiner Werke ins Tschechische: Mitte der 20er Jahre am Schar-
mützelsee bei Berlin.
Foto: Archiv Haupt – Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlag eines Kisch-Briefes vom 4. Juni 1932 aus Nanking: Kisch weilte dort zu Recherchen für das Buch »China geheim«, Ende 1932 in Berlin erschienen.
Reproduktion:
Klaus Haupt – Alle Rechte vorbehalten

 

 

Vorwort des Buches »Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila«. Herausgegeben von Klaus Haupt. Verlag Das Neue Berlin, 1998, 304 Seiten. Leinen, Schutzumschlag, Lesezeichen. Im Buch enthalten: Umfassende biografische und bibliografische Zeittafel; Seitenmarginalien und ausführliche Anmerkungen zu Personen, Vorgängen und Hintergründen mit zahlreichen bis dahin unbekannten Tatsachen; Personenregister; reich bebildert, darunter erstmals veröffentlichte Schriftstücke und Zeitdokumente.

KISCH: »Ich bin der goldene Egoneck.« – BRIEFE AN JARMILA

JARMILA war ein Lesemensch. Ihre Leidenschaft war die Literatur, waren Bücher, das geschriebene, gedruckte Wort. Wann immer ich sie in Prag besuchte in der Rooseveltová 49, in ihrem Wohnzimmer mit dem schönen Blick weit über die »Goldene Stadt« gab es nirgendwo einen freien Platz. Auf dem Tisch, dem Sofa, den Stühlen, auf dem Klavier, überall lagen Bücher über Bücher aus ihrer reichhaltigen Bibliothek. Goethe und Schiller in alten Ausgaben, Heine, Balzac, Stendhal, Diderot, Shakespeare, Wilde, Tolstoi, Gorki, Bände aus dem Malik Verlag, Jack Londons Werke mit Kischs Vorworten, Paul Wieglers »Geschichte der Weltliteratur«...
Jarmila konnte nie genug lesen. Bücher waren für sie mitunter sogar ein Heilmittel. Litt sie an Seelenschmerz, verkroch sie sich in ein geliebtes Buch und stieg erst wieder heraus, wenn sich die düsteren Wolken verzogen hatten. Zwischen den Büchern lagen Zeitungen, Zeitschriften, Blätter mit ihren Notizen. Für einen Sitzplatz oder das Kaffeegedeck mußte erst zusammengeräumt werden. In einer erlesenen Vitrine bewahrte sie die bibliophilen Schätze: Kisch-Erstausgaben samt und sonders mit Widmungen des Autors.
Zum Kreis ihrer Freunde, Weggefährten und Bekannten gehörten viele Frauen und Männer der Feder: Milena Jesenska, Ivan Olbracht, Anna Seghers, Leonhard Frank... Die erste jungverliebte Ehe schloß sie mit einem jungen tschechischen Dichter - Josef Reiner. Der zweite Ehemann war ein deutscher Autor und Literaturkritiker - Willy Haas. Der dritte, mit ihm bis zu seinem Tode mehr als drei Jahrzehnte verheiratet, war ein in seiner Heimat bekannter und beliebter tschechischer Journalist - Vincenz Necas.
In ihren Glanzzeiten als junge Frau muß sie eine Ausstrahlung gehabt haben, die schwer zu erklären ist. Ähnlich, wie das vermutlich bei Milena Jesenska, Alma Mahler oder anderen berühmten Frauen ihrer Zeit gewesen sein mag. Dabei war sie von Natur eher schüchtern und scheu. Ja, sie wurde verlegen, wenn sie mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten zusammentraf, wie es der Fall war, als sie zusammen mit Kisch in Bad Saarow Maxim Gorki besucht hat. An Verehrern mangelte es ihr jedenfalls nicht. Auch Männer, die jünger waren als sie, waren von ihr fasziniert, wie »der junge Australier« John Fisher - ein Sohn des ehemaligen australischen Premierministers Andrew Fisher, der zwischen 1908 und 1915 an der Spitze von Labor-Regierungen stand. Kisch hatte den jungen Berufskollegen an Bord der »Strathaird« kennengelernt und ihm den »heißen Tip« vom bevorstehenden Sprung auf den fünften Kontinent gegeben. John Fisher seinerseits begleitete Kisch, den er verehrte, auf der Heimreise nach Europa, lernte Jarmila kennen und verliebte sich in Sie. Jarmila war eine begehrte Frau.
Ich hatte sie in Prag auf den Spuren von Kisch kennengelernt. Sie führte mich rund um den Altstädter Ring, um mir Sehenswürdigkeiten und Zusammenhänge so zu zeigen und zu erklären, wie es einst Kisch mit ihr getan hatte. Mit Vincek, ihrem Mann, einem Bär von Gestalt und einem überaus friedlichen Gemüt, habe ich im beliebten Altstädter Restaurant »U zlatého tygra«, in dem ausschließlich »Pilsner Urquell« gezapft wird, so manches Glas getrunken. Aus einer journalistischen Bekanntschaft wurde im Laufe der Zeit eine enge Freundschaft.
Nachdem mein mehrjähriger Korrespondenten-Aufenthalt in der Stadt an der Moldau beendet und ich nach Berlin zurückgekehrt war, besuchte ich Jarmila - allein oder mit der Familie - regelmäßig. Zwischendurch standen wir brieflich in Kontakt. In den letzten Jahren endeten ihre Briefe oft mit den Worten: »Schreibe bald, es ist meine einzige Freude.« Eines Tages, Vincek war schon gestorben, erhielt ich ein Telegramm: »Bin krank - kannst kommen«. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß ich sofort nach Prag mußte. Ihr Gesundheitszustand hatte sich rapide verschlechtert und sie fürchtete, ihr Ende könnte nahen. In dieser Situation wollte sie die Gewißheit haben, daß die Briefe, die Kisch ihr geschrieben hat sowie die ihr vom Autor gewidmeten deutschsprachigen Ausgaben seiner Bücher »in gute Hände kommen«. Sie schenkte mir Bücher und Briefe. Glücklicherweise erholte sich Jarmila und lebte noch mehr als ein Jahrzehnt. So erlebte sie denn in geistiger Frische das große Vergnügen der verschiedenen Publikationen zum 100. Geburtstag von Egon Erwin Kisch, in denen auch ihr Werk gewürdigt worden ist. Und gemeinsam genossen wir weiterhin unterhaltsame Begegnungen, Gespräche und Briefwechsel.
Am 30. August 1990 ist Jarmila in einem Seniorenheim in Dobris bei Prag im Alter von 94 Jahren verstorben. Die letzte Ruhe hat sie in ihrer Heimatstadt gefunden - ihrem Wunsche entsprechend neben Josef Reiner und Vincenz Necas.

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JARMILA Ambrozová stammt aus einer patriotischen tschechischen Familie. Die Mutter ist verwandt mit Antonín Slavicek, einem der bedeutendsten tschechischen Maler. Der Vater, ein Beamter, ist Mitglied eines Komitees, das sich für die Errichtung eines repräsentativen Denkmals zu Ehren von Jan Hus einsetzt. Im Jahre 1915, zur 500. Wiederkehr des Tages, an dem der tschechische Reformator in Konstanz verbrannt worden ist, wird es auf dem Altstädter Ring in Prag eingeweiht. Aber kurz nach der Jahrhundertwende und - geboren am 11. Februar 1896 - noch ein kleines Mädchen, wird Jarmila Zeugin, wie sich die Obrigkeit entschieden gegen eine Ehrung des revolutionären tschechischen Gottesmannes stemmt. Als Franz Joseph I. im Sommer des Jahres 1902 Prag besucht, will er keinen Hus sehen. Da kommt dann die Polizei ins Haus der Familie Ambroz und beschlagnahmt eine Büste des Magisters. Jarmilas Vater hatte sie, umrahmt von bunten Lampions und Kerzen, außen vor das Wohnzimmerfenster gestellt. Es war der attraktivste Blickpunkt in jenem Haus auf der Insel Kampa, das der Karlsbrücke - über die der Kaiser seinen Spaziergang machte - am nächsten steht. Dort - heutzutage ein beliebtes Fotomotiv für Touristen aus aller Welt - ist Jarmila aufgewachsen.
Die prägende Schulbildung erhält sie ab September 1907 auf dem Mädchengynnasium »Minerva«. Es ist das erste Mädchengymnasium in Österreich-Ungarn, eine bereits traditionsreiche Bildungsanstalt, deren Gründung im Jahre 1890 mit dem Kampf der tschechischen Patrioten um Emanzipation des tschechischen Volkes verknüpft ist. Die »Minervistinnen« sind selbstbewußte junge Damen. Zu ihnen gehört auch Milena Jesenská, die später durch ihre Beziehung zu Franz Kafka berühmt werden wird. Milena und Jarmila sind während der Zeit auf dem »Minerva«-Gymnasium eng befreundet. Mit ihr und Stasa Procházková als Dritte im Bunde machen sie als »Výtrznice« (Skandalistinnen) von sich reden. In modischen pastellfarbenen Kleidern, mit offenem Haar, strumpflos die Füße in Sandalen überschreiten sie eine geradezu heilige Prager Grenze am unteren Ende des Wenzelsplatzes: Sie verlassen Ovocna (Obstgasse) und Ferdinandstraße, die Promeniermeile der Tschechen, und paradieren über den Graben (Na prikope), die belebte Geschäftsstraße auf der anderen Seite, die seit eh und je für Deutsche und Juden als Korso reserviert ist.
Dieses Verhalten gibt Gesprächsstoff in Prag. Obendrein suchen die jungen Damen Kontakt und Diskussionen mit Künstlern in den Caféhäusern. Sie besuchen gar das Café Arco in der Hybernská und faszinieren mit ihrer Schönheit, Klugheit und Weltoffenheit Franz Werfel, Max Brod, Ernst Polak, Willy Haas, Franz Kafka und andere junge jüdische Intellektuelle, die sich im Arco gegenüber dem Masaryk Bahnhof treffen.
Nach der Matura, dem österreichischen Abitur, im Frühjahr 1915 nimmt Jarmila - wie übrigens auch Milena Jesenská - in Prag ein Studium an der Medizinischen Fakultät auf. Auch das ist in jener Zeit ein ungewöhnlicher emanzipatorischer Schritt. Gleichberechtigung ist an den Fakultäten längst nicht Alltag. Bei ihrem Entschluß hat sie allerdings nicht bedacht, daß sie kein Blut sehen kann, den Geruch in der Anatomie und das Sezieren von Leichen nicht erträgt. Obendrein der Anblick der Verwundeten und Verstümmelten, die von der Front nach Prag gebracht werden. Nach fünf Semestern gibt sie auf, um einen anderen Weg zu suchen.
Mit Josef Reiner (1897-1920), der ebenfalls Medizin studiert, aber zugleich als Redakteur der Tageszeitung »Tribuna« arbeitet und erfolgversprechend dichterischen Ambitionen nachgeht, schließt sie sich Gleichgesinnten auf dem linken Flügel der politischen Szene an. Gemeinsam übersetzen die beiden aus dem Deutschen einige Abschnitte aus Lenins Schrift »Staat und Revolution« in die tschechiche Sprache. Die Arbeit erscheint im Jahre 1920, hat für die damalige revolutionäre Bewegung in der Tschechoslowakei Neuwert - und ist Jarmilas erste Leistung als Übersetzerin.
Dann trifft sie ein schwerer Schlag: Josef Reiner, gerade 22jährig, vergiftet sich mit Arsen wegen ihrer Affaire mit Willy Haas, die bis zu diesem Zeitpunkt wohl rein platonisch ist. Sie setzt Reiner ein kleines literarisches Denkmal und stellt ein Bändchen mit seinen Werken - »Gedichte-Prosa-Kritiken-Aphorismen« - zusammen. Das ist Jarmilas erste selbständige Buchtat. Dieser Selbstmord aber hat sie tief erschüttert, und er macht ihr noch lange zu schaffen. Am Grabe ihrer jungen Liebe weint sie Tag für Tag bittere Tränen - »bis mich der Willy Haas da weggeholt hat«. Nachdem das Trauerjahr vorüber ist, heiraten die Beiden Ende März 1921 - heimlich. Und der Willy Haas hat sie dann mit nach Berlin genommen. Das ist im Frühjahr 1921 und just jene Zeit, in der mehrere namhafte Journalisten, Schriftsteller und Dichter aus Prag nach Deutschland übersiedeln. Manche von der Moldau an die Spree. Auch Egon Erwin Kisch.

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KISCH mangelt es nicht an Amouren und Romancen. Schon die Karolina Rosenthal, die Hebamme, hat das prophezeit, gleich, nachdem sie ihm am 29. April 1885 im Haus »Zu den zwei goldenen Bären« auf die Welt verholfen hat. »Du hättest ein Grübchen im Nabel, Du wirst ein Herzganeff sein«, habe sie ihr gesagt, schreibt die Mutter später einmal ihrem Lieblingssohn. Er hat sich daran gehalten: Auch ein Herzensbrecher ist er geworden. - ein Liebhaber auf fünf Kontinenten?
In seinen jungen Jahren als Lokalreporter der »Bohemia« ist er einer der Flottesten unter den Prager Bohemiens. Mit seinen Freunden Jaroslav Hasek und Arne Laurin, mit Max Brod und anderen Genossen der Geselligkeit verbringt er ungezählte Nächte im Montmartre. Das berühmte Künstler-Café befindet sich in der Rezetová, dem Kettengäßchen, gleich um die Ecke vom Annahof in der Altstadt, wo die »Bohemia«, bei der Kisch angestellt ist, ihren Sitz hat. Nach Redaktionsschluß stürzt er sich dort ins Nachtleben. »Was mich anlangt«, schreibt er im Frühjahr 1910 seinem Bruder Paul, »so läuft mein Leben im ewigen Wechsel der Zeitungsmache und der Weiber dahin.«
Kisch ist ein berühmter Nachtschwärmer. Sein Zeitgenosse Karl Kreibich, damals noch ein wenig bekannter Journalist bei der sozialdemokratischen Arbeiterpresse in Nordböhmen, erinnert sich später, daß Kisch Besuchern aus der Provinz als »Sehenswürdigkeit des Prager Nachtlebens« gezeigt wird. Für Josef Waltner aber, den allseits beliebten Montmartre-Besitzer mit künstlerischem Flair und dessen Gäste, die Literaten, Journalisten, Schauspieler und Musiker, ist der junge Lokalpatriot mit ersten internationalen Erfahrungen als »Patriot aller Lokale der Welt«, wie er sich später einmal bezeichnet, »unser Kisch, der Egonek«.
Im Montmartre macht Kisch auch eine äußerst attraktive Eroberung: »Emca Revoluce« - die »Revolution«. Sie ist eine berühmte Tänzerin, heißt mit bürgerlichem Namen Anna Cacká und ist weit und breit die Schönste. Vielleicht ein leichtes, aber kein gewöhnliches Mädchen. Sondern, um noch einmal den neidlosen Zeitzeugen Karl Kreibich zu zitieren, »sozusagen die Königin des Prager Nachtlebens«. Kisch genießt ihre Gunst. Auf dem Parkett beim Slapák, dem volkstümlichen Prager Tango, brilliert er mit ihr. Stolz, denn »ganz Prag beneidete mich um sie«, erinnert er sich im reifen Alter im Gespräch mit einem Berufskollegen, der Anfang 1948 nach Prag gekommen ist, um mit dem heimgekehrten »Rasenden Reporter« ein Interview zu machen. Bei der Trauerfeier für Kisch erblickt Karl Kreibich, inzwischen ein angesehener bekannter Parlamentarier und Politiker, abseits der offiziellen Trauergäste die Anna Cacká und hört, wie sie sagt: »Egonek, du warst der einzige, der ein Herz für uns gehabt hat.«
Vor Jahrzehnten, als ich Bedrich Kisch, den jüngsten der fünf Brüder, in seiner Prager Wohnung interviewte und ihn nach seinem berühmten Bruder befragte, wollte ich wissen, ob Kisch - der Berichterstatter im Magdalenenheim für gefallene Mädchen, einem der Glanzstücke in seinem autobiographischen »Marktplatz der Sensationen« - wohl wirklich Bordellgast gewesen sei oder ob er in der berühmten Reportage seine »Bekanntschaften« nur des Effektes wegen vorgespiegelt habe.
Da versuchte Bedrich Kischs Frau, mit ernster Miene just vor dem von Kischs Großmutter handgewebten Wandteppich - einem wertvollen Familienerbstück - stehend , schnell abzuwiegeln: »Natürlich, aber nur studienhalber.« Was sie dazu veranlaßte und wie sie das meinte, weiß ich nicht. Sie ist dem »Rasenden Reporter« nur einmal in ihrem Leben und nur für wenige Minuten begegnet und kannte ihn also kaum. Kisch jedoch kannte seinen Bruder genau, winkte ab und entgegnete, keinen Widerspruch duldend: »Natürlich nicht nur studienhalber.«
Zu den unveröffentlichten Stories, die Kisch über seinen Aufenthalt im »Paradies Amerika« zu erzählen hatte, gehört auch die von einer für ihn ungeheuer image-fördernden Damenwahl: Nach einem geselligen Abend hatte ein schönes Mädchen zwischen ihm und einem zweiten Begleiter zu entscheiden, wer sie nach Hause geleiten solle. Ihre Gunst fiel auf Kisch. Niemals werde sie erfahren, wen sie abgewiesen habe, frohlockte der Mann aus Prag. Der Verschmähte war kein anderer als Charlie Chaplin.
Die frappierendeste Geschichte über Kischs sexuelles Temperament hat die in Australien gebürtige Reisejournalistin Ella Winter (1898-1980) in ihrer Autobiographie »And not to yield« zum besten gegeben. Sie war eine vollblütige Zeitgenossin der »wilden zwanziger Jahre«, hatte in England studiert, war zunächst jahrelang in der Labour Party aktiv, stark an sozialen Reformen interessiert, schrieb für verschiedene Zeitungen, war Chefredakteurin von Zeitschriften und ließ sich später in den USA nieder. Als sie im Sommer 1930 auf dem Wege nach Rußland in Berlin Station macht, trifft sie im Hotel den ihr bereits bekannten Kisch, der gerade aus dem »Paradies Amerika« zurückgekehrt ist. Er verkörpert für sie eine Miniaturausgabe der deutschen Boheme jener Zeit, die ihr als fröhlich-verrückt in Erinnerung geblieben ist.
Ella Winter ist damals 32, eine dunkeläugige, dunkelhaarige Schönheit. Noch in den ersten zehn Minuten ihrer Begegnung habe Kisch ihr angetragen, mit ihr zu schlafen: »Wir haben nicht viel Zeit, jedes Mädchen geht mit mir ins Bett, Du bist das Mädchen, hier ist der Diwan.« - »Jetzt, sofort?« - »Ja, jetzt sofort, warum nicht?«
Als er älter geworden ist, flunkert er manchmal: Er habe viele Frauen gekannt, aber nur eine Dame. Nämlich Gisl - Gisela Lyner, deren Bekanntschaft er während seiner Wiener Zeit geschlossen hatte. Zunächst schrieb sie seine Manuskripte, war seine Sekretärin, später die Lebensgefährtin und treue Seele an seiner Seite. Warum er Gisl denn nicht endlich heirate, hat ihn die Schauspielerin Steffi Spira einmal gefragt. Kisch darauf: »Die Frau kenn ich zu gut, ist mir unsympathisch.« Das ist echt kischisch. Doch schließlich schließt er mit ihr, 53jährig, am 29. Oktober 1938 in Versailles den Bund der Ehe. Die Wahrheit aber ist: Kisch hatte vor und außer Gisl in seinem Leben eine große Liebe. Jarmila.

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STANDESGEMÄSS ist der Ort, an dem sich Kisch und Jarmila kennenlernen. »Wo soll es schon gewesen sein«, entgegnet sie lachend mit ihrer etwas rauhen Stimme, als ich danach frage. »Im Romanischen Café natürlich.« Das Romanische Café vis-à-vis der Gedächtniskirche ist in den 20er Jahren und in den ersten 30ern bis der braune Terror beginnt ein dominanter Künstlertreffpunkt Berlins. Es ist eine Institution. Hier gehen sie ein und aus die schon namhaften oder später berühmt werdenden Schriftsteller, Journalisten, Dichter, Schauspieler, Regisseure, Film- und Theaterkritiker, Musiker, Komponisten, Maler, Architekten. Hier treffen sie sich, um zu plaudern, zu diskutieren, zu streiten, Ideen auszubreiten: Alfred Polgar, Walter Hasenclever, Ernst Toller, Anton Kuh, Franz Werfel, Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr vom »Berliner Tageblatt«, Herbert Ihering vom »Börsen-Courier«, der junge Konrad Wachsmann, der später in den USA als Architekt bekannt wird, der junge Billy Wilder, der im Romanischen Café die Idee zu seinem ersten Film »Menschen am Sonntag« entwickelt und den Jarmila »Billie Baldower« nennt - und natürlich Egon Erwin Kisch.
Kisch ist einer der Gäste, die die Atmosphäre prägen. Zu seinen Gepflogenheiten gehört es, von Tisch zu Tisch zu gehen, sich mit jedermann zu unterhalten. Ihn interessiert einfach alles. Wer immer in seinen Memoiren oder Erinnerungen über diese Zeit das Romanische Café erwähnt, Kisch kommt darin vor, der geistvolle Gesprächspartner, der unterhaltsame Plauderer, der talentierte Anekdotenerzähler. Das Caféhaus als Institution - ob in Prag oder Wien oder nun in Berlin - ist für Kischs ein zweites zu Hause.

Und so räumt er seinem Berliner Stamm-Café selbst als Trauerstätte einen bevorzugten Platz ein. Als die von Williy Haas herausgegebene »Literarische Welt« im Jahre 1927 eine Rundfrage »Wie soll ihr Nekrolog aussehen?« veranstaltet, da antwortet der Mann aus Prag mit schwarzem Humor: »Heute, drei Uhr nachmittags, während die Leiche des Stammgastes, Herrn Kischs, in die Erde gesenkt wird, tritt im ‘Romanischen Café’ eine Arbeitsruhe von drei Minuten ein, innerhalb welcher Zeit nicht serviert wird.«
Das also ist der Ort, an dem Jarmila im Herbst 1921 Kisch, der gerade frisch aus Prag in Berlin eingetroffen ist, kennen lernt . Ihre Erinnerung ist, wie sie im Buche steht: »Ich saß da und er kam an meinen Tisch. Als er hörte, daß ich eine Pragerin bin, war er ganz hingerissen«, erzählt sie und erlebt diesen Augenblick noch einmal: »Prag war das Band, das unsere Freundschaft knüpfte. Als ob er ein Stück Liebe zu Prag auf eine Pragerin übertragen hätte. Wir beide waren in Prag geboren. Er in der Altstadt, ich auf der Kleinseite. Er Ecke Melantrich und Ledergäßchen, ich auf der Insel Kampa. Unter seinen Fenstern lärmte oftmals das Nachtleben von Prag., unter meinen brauste das Altstädter Wehr und rauschte die Moldau. Erst in Berlin aus seinen Erzählungen und aus dem Roman ‘Der Mädchenhirt’, dessen Schauplatz die Kampa ist, erfuhr ich Dinge über Prag, die mir in meiner Schulzeit, als ich dort wohnte, nicht bekannt waren.«

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JARMILA hat in den Jahren und Jahrzehnten als Übersetzerin und Journalistin viele interessante und wichtige Aufgaben erfüllt. In der Anfangszeit ihres Aufenthaltes in Berlin ist sie zunächst mit Übertragungen aus dem Tschechischen ins Deutsche befaßt. Für deutsche Zeitungen übersetzt sie Erzählungen von Jaroslav Hasek, der zu jener Zeit noch nicht die Weltberühmtheit genießt wie nach dem Erscheinen des »Braven Soldaten Schwejk«. Sie weiß diesen Weltliteraten frühzeitig zu schätzen, dessen Bedeutung Haseks Freund Kisch als einer der ersten erkannt und eingeordnet hat. Später überträgt sie Werke namhafter deutscher Autoren ins Tschechische. Arthur Holitscher gehört dazu, Max Zimmering und Leonhard Frank. Sie übersetzt die Erzählung »Der Aufstand der Fischer von St. Barbara«, mit der sich die junge Anna Seghers auf der literarischen Bühne ihren ersten Beifall sowie den begehrten Kleist-Preis holt, und trägt so dazu bei, sie auch in der Tschechoslowakei bekannt zu machen.
Bis Anfang 1933 wohnt Jarmila, abgesehen von wiederholten längeren Prager Zwischenaufenthalten, in Berlin. Sie trägt inzwischen den Namen Haasová, de facto ist sie etwa ein Jahr mit Willy Haas verheiratet. Nach der faschistischen Machtübernahme in Deutschland hält sie sich zeitweise in Frankreich auf. Dann übernimmt sie in Prag die Kulturredaktion der beliebten Frauenzeitschrift »Rozsévacka«. Später ist sie Redakteurin bei der »Tvorba«, einer Zeitschrift für Literatur, Politik und Kunst, die von Julius Fucík geleitet wird, Mitarbeiterin des »Rudé právo« und anderer Publikationen.
Als im Vorfeld des Münchner Abkommens und während des spanischen Freiheitskrieges ein Bertolt Brecht von den renommierten tschechischen Bühnen verbannt ist, übersetzt sie die »Gewehre der Frau Carrar«, damit das Stück vom kommunistischen Arbeiterlaientheaterbund DDOC aufgeführt werden kann. Die Hauptrolle des Pedro spielt Erwin Geschonnek. »Ich war sogar bei Brecht, er hat hier im Hotel ‘Europa’ gewohnt, um mir die Autorisierung für die Übersetzung persönlich geben zu lassen«, erinnert sie sich. In der Tschechoslowakei, in der sich nach 1933 bekanntlich viele deutsche Emigranten aufhalten, hat sie manche Arbeit »aus Solidarität übersetzt, damit es hier erscheinen konnte. Ich habe nicht des Geldes wegen übersetzt. Damit war doch nicht viel zu verdienen. Ich habe es getan, wegen der Publizität anderer Werke.«
Mit Vincenz Necas (1903-1972) - den sie kurz bevor die Deutschen im Jahre 1939 Prag besetzen heiratet - hilft sie deutschen Emigranten auf verschiedene Weise, in der Tschechoslowakei Fuß zu fassen, sich eine neue Existenz aufzubauen und die antifaschistische Tätigkeit fortzusetzen. Vincenz ist es, der schnell dafür sorgt, daß die populäre »Arbeiter-Illustrierte Zeitung« in Prag unverzüglich weitergedruckt werden kann, nachdem ihr Erscheinen in Berlin angesichts der faschistischen Machtübernahme eingestellt werden mußte. In ihrer Wohnung in der Rooseveltová geht so mancher deutsche Emigrant ein und aus. Der berühmte Fotomonteur John Heartfield, der nach seiner abenteuerlichen Flucht über die deutsch-tschechoslowakische Grenze einige Häuser weiter eine Unterkunft gefunden hat, ist Sonntags morgens häufiger Frühstücksgast bei Jarmila und Vincenz.
Die Bekanntschaft mit Kisch aber, die sie im Herbst 1921 im Romanischen Café geschlossen hat, gibt ihrer Arbeit und ihrem Leben den entscheidenden Sinn. Der erste Text, den Egonek ihr zur Übersetzung ins Tschechische anträgt, ist ein Auszug aus seinem Kriegstagebuch »Soldat im Prager Korp«, die ungeheuer spannende Stelle »Der Übergang über die Drina«. Jarmila weigerte sich zunächst, es zu übersetzen, weil sie keine Kriegserfahrung hat, aber Kisch besteht darauf daß sie es tut, denn er weiß, wie sorgfältig sie arbeitet.
Kisch, der das Tschechische zwar wie eine zweite Muttersprache beherrscht, aber seine Texte ausschließlich in deutscher Sprache verfaßt, ist mit dem Ergebnis ihrer Arbeit höchst zufrieden. Jarmila wird die von ihm autorisierte Übersetzerin aller seiner Werke ins Tschechische. Ihr Wirken für Kisch aber besteht nicht allein im Übertragen seiner Werke ins Tschechische. Jarmila ist in beider Vaterstadt auch Kischs zuverlässige Stütze bei der Herausgabe seiner Bücher. Sie hilft bei der Auswahl der Reportagen für die tschechischen Sammelbände, macht Korrekturen, unterbreitet Vorschläge für Buchtitel, gibt inhaltliche Ratschläge, verhandelt mit Verlegern, vertritt vehement Kischs Interessen als Autor. »Es war nicht nur Übersetzerei, sondern wirkliche Zusammenarbeit. Und das war das schöne daran«, hat sie mir einmal geschrieben. Wann immer möglich, trägt sie mit Veröffentlichungen dazu bei, Kischs Popularität zu fördern. Denn nicht zu allen Zeiten läuten die Prager Glocken für ihn. Glanzstück ihrer Veröffentlichungen über Kisch ist der Biographie-Band »Prager Journalist - Egon Erwin Kisch«, den sie zusammen mit Vincenz Necas im Jahre 1980 veröffentlicht.

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KISCHS Briefe an Jarmila umfassen einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten. Wann immer er unterwegs ist, wo immer er sich aufhält, wenn es irgendwie geht: Jarmila bekommt Post. In manchen Zeiten ist die Folge dichter, in anderen sind die Abstände größer. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Es kann die Situation sein, in der sich Kisch befindet, die Stimmung, der Arbeitsdruck. Aber stets öffnen seine Zeilen dem Leser Blicke in wichtige Lebensabschnitte.
Die ersten Briefe datieren aus der Zeit, da die Beiden offenbar frisch verliebt sind. Für Kisch ist es zugleich jene Periode, die verbunden ist mit seinem Wechsel nach Berlin und die eine ziemliche Zäsur in seinem Leben bedeutet. Immerhin ist er 36, um elf Jahre älter als Jarmila, und hinter ihm liegen bereits ereignisreiche und dramatische Lebensabschnitte: Die Praxis als Reporter auf heimatlichem Boden in Prag, wo er jeden und alles kennt, das Terrain und sein Metier beherrscht; die Jahre des Krieges mit den furchtbaren Erlebnissen an der Front, die ihn noch lange verfolgen; die revolutionären Ereignisse in Wien, die er als Kommandant der Roten Garde und Vorsitzender des revolutionären Soldatenrates durchlebt, samt all den bitteren Enttäuschungen und zerstörten Hoffnungen.
Und nun steht er in Berlin gewissermaßen vor einem Neubeginn, muß sich eine neue Existenz aufbauen und ist natürlich darauf aus, sich auch hier einen Namen zu machen. Erfreut schreibt er Jarmila, als ihn die große »Berliner Volkszeitung« einen »König der Journalisten« nennt. Dann wieder offenbart er: »Was mich betrifft, so habe ich viel Ruhm, aber wenig Geld, so wenig, wie ich vielleicht noch niemals in meinem Leben hatte. Aber das kann mir auch nichts anhaben.« Was Geldmangel betrifft, so vertraut er den Jarmila öfter an. In Reichtum ist er nie geschwommen.
Der letzte Brief kommt aus New York. Der zweite Weltkrieg ist vorüber. In wenigen Stunden sticht die »Queen Elisabeth« in See Richtung Europa. Kisch kündigt Jarmila seine Ankunft an und bittet sie, zu helfen, daß er in Prag Wohnung bekommt und wieder schnell Fuß fassen kann.
Dazwischen liegen Buckow bei Berlin und Teufelsmühle bei Cheb (Eger), »Der rasende Reporter« und »Wagnisse in aller Welt«, Moskau und Nanking, »Zaren, Popen, Bolschewiken« und »China geheim«, Bredeene an der Nordsee und Sanary-sur-Mer an der Cote Azur, Versailles und Kyoto, das »Paradies Amerika« und die »Landung in Australien«, die Fronten des spanischen Freiheitskampfes gegen den Putschisten Franco und das Exil in Mexiko.
Als er aus dem »Paradies Amerika« heimgekehrt ist, drängt er Jarmila, zu ihm in die Teufelsmühle zu kommen, wo er sich mit Gisl zurückgezogen hat, um in Ruhe sein Buch zu schreiben. Aus Sanary-sur-Mer teilt er mit, daß er in Berlin »wirklich miese Verhältnisse zurückgelassen zu haben« scheint, denn großen Ärger »haben wir mit unserer Hausfrau«; sogar ein Prozeß drohe ihm. Aus Usbekistan berichtet er, daß er weder Post erhalten hat noch schreiben kann, denn es gebe »keine Karten, keine Briefmarken, keine Briefkästen, nur Berge, Wildnis« und er fragt: Was machen wohl »unsere Bekannten in Berlin, das ‘Tagebuch’, das Romanische ...« In Nanking, im Sommer 1932, beschäftigt ihn die Frage: »Was willst Du zu Weihnachten herausgeben? ‘Asien gründlich verändert habe ich auch noch nicht gesehen.«
Nachdem Kisch aus Frankreich über die Vereinigten Staaten in Mexiko angelangt ist, kann er für Jahre keine Post mehr nach Prag senden. Die Tschechoslowakei ist von den Deutschen okkupiert. Briefe von Egon Erwin Kisch, den die Nazis unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in Berlin verhaftet und nur aufgrund starker Proteste freigelassen und in die Tschechoslowakei abgeschoben hatten, würden Jarmila - die bis zur Okkupation unter dem Namen Haasová in linken und liberalen Publikationen publizierte - zusätzlich in Gefahr bringen.
Aus den Briefen an Jarmila erfährt man viel menschliches, allzu menschliches zum Schaffen und zur Biographie eines der bedeutendsten Männer der Feder dieses Jahrhunderts. Sie enthalten Töne, wie man sie nirgendwo anders bei Kisch findet. Hier hat der berühmteste Reporter seiner Zeit eben nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. Und natürlich sind die Briefe auch von anderer Art, als jene an den Bruder Paul und die Mutter, die von enger familiärer Bindung diktiert sind. Nun ist ein Mensch in sein Leben getreten, dem seine Liebe gehört. Wer allerdings hofft, Turteltauben-Elegien vorzufinden, wird enttäuscht sein. Aber Kisch hat Jarmila unglaublich viele Neuigkeiten über sich und seine Umwelt anvertraut, wie man sie in dieser Art bislang nirgendwo anders von ihm erfahren hat : Was er gerade fühlt und woran er denkt, woran er arbeitet und wie er vorankommt, was er erlebt und wie er finanziell steht, wen er getroffen und worüber man gesprochen hat, seine Meinung zu wichtigen politischen Ereignissen und den kleinen Begebenheiten des Alltags. Man erfährt, was er für ein Arbeitstier er ist, wie er schuftet und trotzdem häufig bittere Geldnot leidet, daß er abergläubisch ist und ein Haarspalter, wenn es die Präzision der Arbeit betrifft, und daß zu seinen Lieblingsspeisen Kartoffeln mit Soße gehören. Die zahlreichen Namen, die er erwähnt, vermitteln auf neue Art Einblicke in seinen weitgefächerten Freundes- und Bekanntenkreis, in dem er einen besonderen Platz einnimmt.
Und dann sind da natürlich die unglaublich interessanten Details bezüglich seiner Bücher, Reportagen, Artikel und Schriften, ihrer Übertragung ins Tschechische, ihrer Herausgabe und Veröffentlichung in Prag. Aufschlußreich sind die berühmten »Fragebögen«, um die Kisch Jarmila immer dringend gebeten hat. Es geht darum, seine Arbeiten kritisch zu beurteilen, stets die richtige Formulierung zu finden, das beste Wort für die tschechische Fassung. Kisch sucht Kritik mehr als Lob. Und Jarmilas Wertungen und Vorschläge sind für ihn - nicht nur bezüglich der tschechischen Fassungen, sondern auch für die deutschen Erstausgaben - von besonderem Wert.
»Die Hauptsache ist, wenn Du mir schreibst, was Dir von den Details am ‘Case’ gefällt und was Dir nicht gefällt«, schreibt er ihr am 25. März 1936 aus Versailles während er an seinem Buch »Landung in Australien arbeitet. »Wenn Du jeden Satz übersetzt, so hast Du doch die beste Kritik darüber, und Du weißt, wie dankbar ich für jede tadelnde Kritik bin, wenn ich natürlich auch nicht immer alles akzeptiere. Also schreib mir, was Dir unklar oder blöd vorkommt. Am besten, Du legst Dir einen Zettel auf den Schreibtisch und notierst Dir gleich, was Dir unliebsam auffällt. Es ist zum erstenmal, daß Du ein ungedrucktes Buch von mir übersetzt, und deshalb kann man alle Anregungen noch in die deutsche Originalausgabe hineinarbeiten.«
Während Kisch dankbar ist für jede Kritik, schätzt er jederzeit die Sorgfalt, die Jarmila seinen Arbeiten widmet, würdigt er ihre wahrlich meisterhaften Übersetzungen. »Aber noch viel herzlicher muß ich Dir dafür danken, wie Du die Übersetzung von ‘Paradies Amerika’ durchgeführt hast«, schreibt er am 3. Januar 1931. »Ich habe es von A-Z gelesen, es ist Dein Meisterstück, und eine tierische Arbeit steckt darin...die Übersetzung ist wirklich großartig.« Solches Lob war für Jarmila höchster Lohn.

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GISL Kisch hat in diesem einzigartigen Brief-Stück ebenfalls ihren Part. Sie schreibt in späteren Jahren, als sie bereits mit Egonek zusammen lebt, seine Briefe an Jarmila in die Maschine, wenn er aus Zeitgründen diktiert, anstatt selbst zur Feder zu greifen. Mitunter ergänzt sie seine Zeilen mit eigenen Mitteilungen. In Zeiten, da Kisch nicht in der Lage ist, Jarmila direkt zu schreiben, übernimmt sie es, mit Jarmila den Kontakt zu halten, sie von Egoneks Schritten und Intentionen zu unterrichten, notwendige und wissenswerte Informationen mitzuteilen. Auch über den eigenen Alltag berichtet sie en Detail. So erhält ihre Persönlichkeit neue und schärfere Konturen. Gisl Kisch tritt heraus aus der Rolle der liebenswürdigen Gastgeberin, der es lediglich obliegt, immer wieder ihren ausgezeichneten Kaffee zu kochen, den die zahlreichen Freunde und Bekannten Kischs so nachhaltig loben und wovon viele Erinnerungen an sie vordergründig geprägt sind.
Gisl aber ist vor allem die unermüdliche fleißige rechte Hand Kischs. Zeile für Zeile, Seite für Seite und Buch für Buch werden von ihr über den Zeitraum von einem viertel Jahrhundert »in die Maschine gekloppt«. Viele Texte mehrfach, weil Kisch - der die Reportage in den Rang der Literatur hebt - immer wieder überarbeitet, mitunter mehrere Neufassungen schreibt, bevor der Text seinen Qualitätsansprüchen gerecht wird. Und Gisl korrigiert die Manuskripte, überträgt die Änderungen - arbeitet oftmals bis an die Grenze ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten, ja, mitunter drohen ihr gar die Augen den Dienst zu versagen. Aus ihren Briefen an Jarmila, die Kischs Briefe auf interessante Weise ergänzen, ist zu entnehmen, welchen Rückhalt sie Kisch gibt, der oft genug nicht die nötige Ruhe zum Schreiben findet, weil er von einer Veranstaltung zur anderen rasen muß.
Jarmila und Gisl verbindet zeitlebens eine außergewöhnliche Freundschaft und Zuneigung, bestimmt durch beider Verhältnis zu Kisch und seinem Werk, in deren Dienst sie sich selbstlos stellen. Dieses Verhältnis hat gewiß unterschiedliche Stimmungen und Gefühle zu überstehen. Sie wissen natürlich von Anfang an voneinander, von ihrem Platz im Herzen Kischs. Und die persönliche Nähe der einen oder anderen zu Kisch unterliegt im Laufe der Jahre Wandlungen. Jarmila scheint häufig seelische Schmerzen zu leiden, die sie krank machen. Während in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre »das Fräulein Lyner«, wie Kisch der Mutter gelegentlich mitteilt, fleißig für ihn Manuskripte schreibt, nimmt »Frau Jarmila« in seinem Leben einen gänzlich anderen Platz ein. Aber auch, als die Entscheidung endgültig zugunsten von Gisl gefallen ist, geht Jarmila im »Haus zu den zwei goldenen Bären« ein und aus. Sie muß Egonek über sein zu Hause berichten und der Mutter über Egonek.
Egonek und Jarmila bewahren sich nach der Zeit der Liebe ihre tiefe Zuneigung und herzliche Freundschaft. Und in der Stunde des Abschieds zur letzten Reise des »Rasenden Reporters« vereinen sich in der ersten Reihe des Trauerzuges durch Prag hinter dem Sarge jene drei Menschen, die von allen noch Lebenden Egon Erwin Kisch am nächsten stehen: Der Bruder Bedrich, Gisl und Jarmila.

 

 
 

 

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