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Vorwort
des Buches »Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila«. Herausgegeben von
Klaus Haupt. Verlag Das Neue Berlin, 1998, 304 Seiten. Leinen,
Schutzumschlag, Lesezeichen. Im Buch enthalten: Umfassende
biografische und bibliografische Zeittafel; Seitenmarginalien und
ausführliche Anmerkungen zu Personen, Vorgängen und Hintergründen
mit zahlreichen bis dahin unbekannten Tatsachen; Personenregister;
reich bebildert, darunter erstmals veröffentlichte Schriftstücke und
Zeitdokumente.
KISCH: »Ich bin
der goldene Egoneck.« – BRIEFE AN JARMILA
JARMILA war ein Lesemensch. Ihre Leidenschaft war die Literatur,
waren Bücher, das geschriebene, gedruckte Wort. Wann immer ich sie
in Prag besuchte in der Rooseveltová 49, in ihrem Wohnzimmer mit dem
schönen Blick weit über die »Goldene Stadt« gab es nirgendwo einen
freien Platz. Auf dem Tisch, dem Sofa, den Stühlen, auf dem Klavier,
überall lagen Bücher über Bücher aus ihrer reichhaltigen Bibliothek.
Goethe und Schiller in alten Ausgaben, Heine, Balzac, Stendhal,
Diderot, Shakespeare, Wilde, Tolstoi, Gorki, Bände aus dem Malik
Verlag, Jack Londons Werke mit Kischs Vorworten, Paul Wieglers
»Geschichte der Weltliteratur«...
Jarmila konnte nie genug lesen. Bücher waren für sie mitunter sogar
ein Heilmittel. Litt sie an Seelenschmerz, verkroch sie sich in ein
geliebtes Buch und stieg erst wieder heraus, wenn sich die düsteren
Wolken verzogen hatten. Zwischen den Büchern lagen Zeitungen,
Zeitschriften, Blätter mit ihren Notizen. Für einen Sitzplatz oder
das Kaffeegedeck mußte erst zusammengeräumt werden. In einer
erlesenen Vitrine bewahrte sie die bibliophilen Schätze:
Kisch-Erstausgaben samt und sonders mit Widmungen des Autors.
Zum Kreis ihrer Freunde, Weggefährten und Bekannten gehörten viele
Frauen und Männer der Feder: Milena Jesenska, Ivan Olbracht, Anna
Seghers, Leonhard Frank... Die erste jungverliebte Ehe schloß sie
mit einem jungen tschechischen Dichter - Josef Reiner. Der zweite
Ehemann war ein deutscher Autor und Literaturkritiker - Willy Haas.
Der dritte, mit ihm bis zu seinem Tode mehr als drei Jahrzehnte
verheiratet, war ein in seiner Heimat bekannter und beliebter
tschechischer Journalist - Vincenz Necas.
In ihren Glanzzeiten als junge Frau muß sie eine Ausstrahlung gehabt
haben, die schwer zu erklären ist. Ähnlich, wie das vermutlich bei
Milena Jesenska, Alma Mahler oder anderen berühmten Frauen ihrer
Zeit gewesen sein mag. Dabei war sie von Natur eher schüchtern und
scheu. Ja, sie wurde verlegen, wenn sie mit außergewöhnlichen
Persönlichkeiten zusammentraf, wie es der Fall war, als sie zusammen
mit Kisch in Bad Saarow Maxim Gorki besucht hat. An Verehrern
mangelte es ihr jedenfalls nicht. Auch Männer, die jünger waren als
sie, waren von ihr fasziniert, wie »der junge Australier« John
Fisher - ein Sohn des ehemaligen australischen Premierministers
Andrew Fisher, der zwischen 1908 und 1915 an der Spitze von
Labor-Regierungen stand. Kisch hatte den jungen Berufskollegen an
Bord der »Strathaird« kennengelernt und ihm den »heißen Tip« vom
bevorstehenden Sprung auf den fünften Kontinent gegeben. John Fisher
seinerseits begleitete Kisch, den er verehrte, auf der Heimreise
nach Europa, lernte Jarmila kennen und verliebte sich in Sie.
Jarmila war eine begehrte Frau.
Ich hatte sie in Prag auf den Spuren von Kisch kennengelernt. Sie
führte mich rund um den Altstädter Ring, um mir Sehenswürdigkeiten
und Zusammenhänge so zu zeigen und zu erklären, wie es einst Kisch
mit ihr getan hatte. Mit Vincek, ihrem Mann, einem Bär von Gestalt
und einem überaus friedlichen Gemüt, habe ich im beliebten
Altstädter Restaurant »U zlatého tygra«, in dem ausschließlich
»Pilsner Urquell« gezapft wird, so manches Glas getrunken. Aus einer
journalistischen Bekanntschaft wurde im Laufe der Zeit eine enge
Freundschaft.
Nachdem mein mehrjähriger Korrespondenten-Aufenthalt in der Stadt an
der Moldau beendet und ich nach Berlin zurückgekehrt war, besuchte
ich Jarmila - allein oder mit der Familie - regelmäßig.
Zwischendurch standen wir brieflich in Kontakt. In den letzten
Jahren endeten ihre Briefe oft mit den Worten: »Schreibe bald, es
ist meine einzige Freude.« Eines Tages, Vincek war schon gestorben,
erhielt ich ein Telegramm: »Bin krank - kannst kommen«. Ich kannte
sie gut genug, um zu wissen, daß ich sofort nach Prag mußte. Ihr
Gesundheitszustand hatte sich rapide verschlechtert und sie
fürchtete, ihr Ende könnte nahen. In dieser Situation wollte sie die
Gewißheit haben, daß die Briefe, die Kisch ihr geschrieben hat sowie
die ihr vom Autor gewidmeten deutschsprachigen Ausgaben seiner
Bücher »in gute Hände kommen«. Sie schenkte mir Bücher und Briefe.
Glücklicherweise erholte sich Jarmila und lebte noch mehr als ein
Jahrzehnt. So erlebte sie denn in geistiger Frische das große
Vergnügen der verschiedenen Publikationen zum 100. Geburtstag von
Egon Erwin Kisch, in denen auch ihr Werk gewürdigt worden ist. Und
gemeinsam genossen wir weiterhin unterhaltsame Begegnungen,
Gespräche und Briefwechsel.
Am 30. August 1990 ist Jarmila in einem Seniorenheim in Dobris bei
Prag im Alter von 94 Jahren verstorben. Die letzte Ruhe hat sie in
ihrer Heimatstadt gefunden - ihrem Wunsche entsprechend neben Josef
Reiner und Vincenz Necas. *
JARMILA Ambrozová stammt aus einer patriotischen tschechischen
Familie. Die Mutter ist verwandt mit Antonín Slavicek, einem der
bedeutendsten tschechischen Maler. Der Vater, ein Beamter, ist
Mitglied eines Komitees, das sich für die Errichtung eines
repräsentativen Denkmals zu Ehren von Jan Hus einsetzt. Im Jahre
1915, zur 500. Wiederkehr des Tages, an dem der tschechische
Reformator in Konstanz verbrannt worden ist, wird es auf dem
Altstädter Ring in Prag eingeweiht. Aber kurz nach der
Jahrhundertwende und - geboren am 11. Februar 1896 - noch ein
kleines Mädchen, wird Jarmila Zeugin, wie sich die Obrigkeit
entschieden gegen eine Ehrung des revolutionären tschechischen
Gottesmannes stemmt. Als Franz Joseph I. im Sommer des Jahres 1902
Prag besucht, will er keinen Hus sehen. Da kommt dann die Polizei
ins Haus der Familie Ambroz und beschlagnahmt eine Büste des
Magisters. Jarmilas Vater hatte sie, umrahmt von bunten Lampions und
Kerzen, außen vor das Wohnzimmerfenster gestellt. Es war der
attraktivste Blickpunkt in jenem Haus auf der Insel Kampa, das der
Karlsbrücke - über die der Kaiser seinen Spaziergang machte - am
nächsten steht. Dort - heutzutage ein beliebtes Fotomotiv für
Touristen aus aller Welt - ist Jarmila aufgewachsen.
Die prägende Schulbildung erhält sie ab September 1907 auf dem
Mädchengynnasium »Minerva«. Es ist das erste Mädchengymnasium in
Österreich-Ungarn, eine bereits traditionsreiche Bildungsanstalt,
deren Gründung im Jahre 1890 mit dem Kampf der tschechischen
Patrioten um Emanzipation des tschechischen Volkes verknüpft ist.
Die »Minervistinnen« sind selbstbewußte junge Damen. Zu ihnen gehört
auch Milena Jesenská, die später durch ihre Beziehung zu Franz Kafka
berühmt werden wird. Milena und Jarmila sind während der Zeit auf
dem »Minerva«-Gymnasium eng befreundet. Mit ihr und Stasa
Procházková als Dritte im Bunde machen sie als »Výtrznice«
(Skandalistinnen) von sich reden. In modischen pastellfarbenen
Kleidern, mit offenem Haar, strumpflos die Füße in Sandalen
überschreiten sie eine geradezu heilige Prager Grenze am unteren
Ende des Wenzelsplatzes: Sie verlassen Ovocna (Obstgasse) und
Ferdinandstraße, die Promeniermeile der Tschechen, und paradieren
über den Graben (Na prikope), die belebte Geschäftsstraße auf der
anderen Seite, die seit eh und je für Deutsche und Juden als Korso
reserviert ist.
Dieses Verhalten gibt Gesprächsstoff in Prag. Obendrein suchen die
jungen Damen Kontakt und Diskussionen mit Künstlern in den
Caféhäusern. Sie besuchen gar das Café Arco in der Hybernská und
faszinieren mit ihrer Schönheit, Klugheit und Weltoffenheit Franz
Werfel, Max Brod, Ernst Polak, Willy Haas, Franz Kafka und andere
junge jüdische Intellektuelle, die sich im Arco gegenüber dem
Masaryk Bahnhof treffen.
Nach der Matura, dem österreichischen Abitur, im Frühjahr 1915 nimmt
Jarmila - wie übrigens auch Milena Jesenská - in Prag ein Studium an
der Medizinischen Fakultät auf. Auch das ist in jener Zeit ein
ungewöhnlicher emanzipatorischer Schritt. Gleichberechtigung ist an
den Fakultäten längst nicht Alltag. Bei ihrem Entschluß hat sie
allerdings nicht bedacht, daß sie kein Blut sehen kann, den Geruch
in der Anatomie und das Sezieren von Leichen nicht erträgt.
Obendrein der Anblick der Verwundeten und Verstümmelten, die von der
Front nach Prag gebracht werden. Nach fünf Semestern gibt sie auf,
um einen anderen Weg zu suchen.
Mit Josef Reiner (1897-1920), der ebenfalls Medizin studiert, aber
zugleich als Redakteur der Tageszeitung »Tribuna« arbeitet und
erfolgversprechend dichterischen Ambitionen nachgeht, schließt sie
sich Gleichgesinnten auf dem linken Flügel der politischen Szene an.
Gemeinsam übersetzen die beiden aus dem Deutschen einige Abschnitte
aus Lenins Schrift »Staat und Revolution« in die tschechiche
Sprache. Die Arbeit erscheint im Jahre 1920, hat für die damalige
revolutionäre Bewegung in der Tschechoslowakei Neuwert - und ist
Jarmilas erste Leistung als Übersetzerin.
Dann trifft sie ein schwerer Schlag: Josef Reiner, gerade 22jährig,
vergiftet sich mit Arsen wegen ihrer Affaire mit Willy Haas, die bis
zu diesem Zeitpunkt wohl rein platonisch ist. Sie setzt Reiner ein
kleines literarisches Denkmal und stellt ein Bändchen mit seinen
Werken - »Gedichte-Prosa-Kritiken-Aphorismen« - zusammen. Das ist
Jarmilas erste selbständige Buchtat. Dieser Selbstmord aber hat sie
tief erschüttert, und er macht ihr noch lange zu schaffen. Am Grabe
ihrer jungen Liebe weint sie Tag für Tag bittere Tränen - »bis mich
der Willy Haas da weggeholt hat«. Nachdem das Trauerjahr vorüber
ist, heiraten die Beiden Ende März 1921 - heimlich. Und der Willy
Haas hat sie dann mit nach Berlin genommen. Das ist im Frühjahr 1921
und just jene Zeit, in der mehrere namhafte Journalisten,
Schriftsteller und Dichter aus Prag nach Deutschland übersiedeln.
Manche von der Moldau an die Spree. Auch Egon Erwin Kisch.
*
KISCH mangelt es nicht an Amouren und Romancen. Schon die Karolina
Rosenthal, die Hebamme, hat das prophezeit, gleich, nachdem sie ihm
am 29. April 1885 im Haus »Zu den zwei goldenen Bären« auf die Welt
verholfen hat. »Du hättest ein Grübchen im Nabel, Du wirst ein
Herzganeff sein«, habe sie ihr gesagt, schreibt die Mutter später
einmal ihrem Lieblingssohn. Er hat sich daran gehalten: Auch ein
Herzensbrecher ist er geworden. - ein Liebhaber auf fünf
Kontinenten?
In seinen jungen Jahren als Lokalreporter der »Bohemia« ist er einer
der Flottesten unter den Prager Bohemiens. Mit seinen Freunden
Jaroslav Hasek und Arne Laurin, mit Max Brod und anderen Genossen
der Geselligkeit verbringt er ungezählte Nächte im Montmartre. Das
berühmte Künstler-Café befindet sich in der Rezetová, dem
Kettengäßchen, gleich um die Ecke vom Annahof in der Altstadt, wo
die »Bohemia«, bei der Kisch angestellt ist, ihren Sitz hat. Nach
Redaktionsschluß stürzt er sich dort ins Nachtleben. »Was mich
anlangt«, schreibt er im Frühjahr 1910 seinem Bruder Paul, »so läuft
mein Leben im ewigen Wechsel der Zeitungsmache und der Weiber
dahin.«
Kisch ist ein berühmter Nachtschwärmer. Sein Zeitgenosse Karl
Kreibich, damals noch ein wenig bekannter Journalist bei der
sozialdemokratischen Arbeiterpresse in Nordböhmen, erinnert sich
später, daß Kisch Besuchern aus der Provinz als »Sehenswürdigkeit
des Prager Nachtlebens« gezeigt wird. Für Josef Waltner aber, den
allseits beliebten Montmartre-Besitzer mit künstlerischem Flair und
dessen Gäste, die Literaten, Journalisten, Schauspieler und Musiker,
ist der junge Lokalpatriot mit ersten internationalen Erfahrungen
als »Patriot aller Lokale der Welt«, wie er sich später einmal
bezeichnet, »unser Kisch, der Egonek«.
Im Montmartre macht Kisch auch eine äußerst attraktive Eroberung:
»Emca Revoluce« - die »Revolution«. Sie ist eine berühmte Tänzerin,
heißt mit bürgerlichem Namen Anna Cacká und ist weit und breit die
Schönste. Vielleicht ein leichtes, aber kein gewöhnliches Mädchen.
Sondern, um noch einmal den neidlosen Zeitzeugen Karl Kreibich zu
zitieren, »sozusagen die Königin des Prager Nachtlebens«. Kisch
genießt ihre Gunst. Auf dem Parkett beim Slapák, dem volkstümlichen
Prager Tango, brilliert er mit ihr. Stolz, denn »ganz Prag beneidete
mich um sie«, erinnert er sich im reifen Alter im Gespräch mit einem
Berufskollegen, der Anfang 1948 nach Prag gekommen ist, um mit dem
heimgekehrten »Rasenden Reporter« ein Interview zu machen. Bei der
Trauerfeier für Kisch erblickt Karl Kreibich, inzwischen ein
angesehener bekannter Parlamentarier und Politiker, abseits der
offiziellen Trauergäste die Anna Cacká und hört, wie sie sagt:
»Egonek, du warst der einzige, der ein Herz für uns gehabt hat.«
Vor Jahrzehnten, als ich Bedrich Kisch, den jüngsten der fünf
Brüder, in seiner Prager Wohnung interviewte und ihn nach seinem
berühmten Bruder befragte, wollte ich wissen, ob Kisch - der
Berichterstatter im Magdalenenheim für gefallene Mädchen, einem der
Glanzstücke in seinem autobiographischen »Marktplatz der
Sensationen« - wohl wirklich Bordellgast gewesen sei oder ob er in
der berühmten Reportage seine »Bekanntschaften« nur des Effektes
wegen vorgespiegelt habe.
Da versuchte Bedrich Kischs Frau, mit ernster Miene just vor dem von
Kischs Großmutter handgewebten Wandteppich - einem wertvollen
Familienerbstück - stehend , schnell abzuwiegeln: »Natürlich, aber
nur studienhalber.« Was sie dazu veranlaßte und wie sie das meinte,
weiß ich nicht. Sie ist dem »Rasenden Reporter« nur einmal in ihrem
Leben und nur für wenige Minuten begegnet und kannte ihn also kaum.
Kisch jedoch kannte seinen Bruder genau, winkte ab und entgegnete,
keinen Widerspruch duldend: »Natürlich nicht nur studienhalber.«
Zu den unveröffentlichten Stories, die Kisch über seinen Aufenthalt
im »Paradies Amerika« zu erzählen hatte, gehört auch die von einer
für ihn ungeheuer image-fördernden Damenwahl: Nach einem geselligen
Abend hatte ein schönes Mädchen zwischen ihm und einem zweiten
Begleiter zu entscheiden, wer sie nach Hause geleiten solle. Ihre
Gunst fiel auf Kisch. Niemals werde sie erfahren, wen sie abgewiesen
habe, frohlockte der Mann aus Prag. Der Verschmähte war kein anderer
als Charlie Chaplin.
Die frappierendeste Geschichte über Kischs sexuelles Temperament hat
die in Australien gebürtige Reisejournalistin Ella Winter
(1898-1980) in ihrer Autobiographie »And not to yield« zum besten
gegeben. Sie war eine vollblütige Zeitgenossin der »wilden zwanziger
Jahre«, hatte in England studiert, war zunächst jahrelang in der
Labour Party aktiv, stark an sozialen Reformen interessiert, schrieb
für verschiedene Zeitungen, war Chefredakteurin von Zeitschriften
und ließ sich später in den USA nieder. Als sie im Sommer 1930 auf
dem Wege nach Rußland in Berlin Station macht, trifft sie im Hotel
den ihr bereits bekannten Kisch, der gerade aus dem »Paradies
Amerika« zurückgekehrt ist. Er verkörpert für sie eine
Miniaturausgabe der deutschen Boheme jener Zeit, die ihr als
fröhlich-verrückt in Erinnerung geblieben ist.
Ella Winter ist damals 32, eine dunkeläugige, dunkelhaarige
Schönheit. Noch in den ersten zehn Minuten ihrer Begegnung habe
Kisch ihr angetragen, mit ihr zu schlafen: »Wir haben nicht viel
Zeit, jedes Mädchen geht mit mir ins Bett, Du bist das Mädchen, hier
ist der Diwan.« - »Jetzt, sofort?« - »Ja, jetzt sofort, warum
nicht?«
Als er älter geworden ist, flunkert er manchmal: Er habe viele
Frauen gekannt, aber nur eine Dame. Nämlich Gisl - Gisela Lyner,
deren Bekanntschaft er während seiner Wiener Zeit geschlossen hatte.
Zunächst schrieb sie seine Manuskripte, war seine Sekretärin, später
die Lebensgefährtin und treue Seele an seiner Seite. Warum er Gisl
denn nicht endlich heirate, hat ihn die Schauspielerin Steffi Spira
einmal gefragt. Kisch darauf: »Die Frau kenn ich zu gut, ist mir
unsympathisch.« Das ist echt kischisch. Doch schließlich schließt er
mit ihr, 53jährig, am 29. Oktober 1938 in Versailles den Bund der
Ehe. Die Wahrheit aber ist: Kisch hatte vor und außer Gisl in seinem
Leben eine große Liebe. Jarmila.
*
STANDESGEMÄSS ist der Ort, an dem sich Kisch und Jarmila
kennenlernen. »Wo soll es schon gewesen sein«, entgegnet sie lachend
mit ihrer etwas rauhen Stimme, als ich danach frage. »Im Romanischen
Café natürlich.« Das Romanische Café vis-à-vis der Gedächtniskirche
ist in den 20er Jahren und in den ersten 30ern bis der braune Terror
beginnt ein dominanter Künstlertreffpunkt Berlins. Es ist eine
Institution. Hier gehen sie ein und aus die schon namhaften oder
später berühmt werdenden Schriftsteller, Journalisten, Dichter,
Schauspieler, Regisseure, Film- und Theaterkritiker, Musiker,
Komponisten, Maler, Architekten. Hier treffen sie sich, um zu
plaudern, zu diskutieren, zu streiten, Ideen auszubreiten: Alfred
Polgar, Walter Hasenclever, Ernst Toller, Anton Kuh, Franz Werfel,
Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr vom »Berliner Tageblatt«, Herbert
Ihering vom »Börsen-Courier«, der junge Konrad Wachsmann, der später
in den USA als Architekt bekannt wird, der junge Billy Wilder, der
im Romanischen Café die Idee zu seinem ersten Film »Menschen am
Sonntag« entwickelt und den Jarmila »Billie Baldower« nennt - und
natürlich Egon Erwin Kisch.
Kisch ist einer der Gäste, die die Atmosphäre prägen. Zu seinen
Gepflogenheiten gehört es, von Tisch zu Tisch zu gehen, sich mit
jedermann zu unterhalten. Ihn interessiert einfach alles. Wer immer
in seinen Memoiren oder Erinnerungen über diese Zeit das Romanische
Café erwähnt, Kisch kommt darin vor, der geistvolle
Gesprächspartner, der unterhaltsame Plauderer, der talentierte
Anekdotenerzähler. Das Caféhaus als Institution - ob in Prag oder
Wien oder nun in Berlin - ist für Kischs ein zweites zu Hause.
Und so räumt er seinem Berliner Stamm-Café selbst als Trauerstätte
einen bevorzugten Platz ein. Als die von Williy Haas herausgegebene
»Literarische Welt« im Jahre 1927 eine Rundfrage »Wie soll ihr
Nekrolog aussehen?« veranstaltet, da antwortet der Mann aus Prag mit
schwarzem Humor: »Heute, drei Uhr nachmittags, während die Leiche
des Stammgastes, Herrn Kischs, in die Erde gesenkt wird, tritt im
‘Romanischen Café’ eine Arbeitsruhe von drei Minuten ein, innerhalb
welcher Zeit nicht serviert wird.«
Das also ist der Ort, an dem Jarmila im Herbst 1921 Kisch, der
gerade frisch aus Prag in Berlin eingetroffen ist, kennen lernt .
Ihre Erinnerung ist, wie sie im Buche steht: »Ich saß da und er kam
an meinen Tisch. Als er hörte, daß ich eine Pragerin bin, war er
ganz hingerissen«, erzählt sie und erlebt diesen Augenblick noch
einmal: »Prag war das Band, das unsere Freundschaft knüpfte. Als ob
er ein Stück Liebe zu Prag auf eine Pragerin übertragen hätte. Wir
beide waren in Prag geboren. Er in der Altstadt, ich auf der
Kleinseite. Er Ecke Melantrich und Ledergäßchen, ich auf der Insel
Kampa. Unter seinen Fenstern lärmte oftmals das Nachtleben von
Prag., unter meinen brauste das Altstädter Wehr und rauschte die
Moldau. Erst in Berlin aus seinen Erzählungen und aus dem Roman ‘Der
Mädchenhirt’, dessen Schauplatz die Kampa ist, erfuhr ich Dinge über
Prag, die mir in meiner Schulzeit, als ich dort wohnte, nicht
bekannt waren.« *
JARMILA hat in den Jahren und Jahrzehnten als Übersetzerin und
Journalistin viele interessante und wichtige Aufgaben erfüllt. In
der Anfangszeit ihres Aufenthaltes in Berlin ist sie zunächst mit
Übertragungen aus dem Tschechischen ins Deutsche befaßt. Für
deutsche Zeitungen übersetzt sie Erzählungen von Jaroslav Hasek, der
zu jener Zeit noch nicht die Weltberühmtheit genießt wie nach dem
Erscheinen des »Braven Soldaten Schwejk«. Sie weiß diesen
Weltliteraten frühzeitig zu schätzen, dessen Bedeutung Haseks Freund
Kisch als einer der ersten erkannt und eingeordnet hat. Später
überträgt sie Werke namhafter deutscher Autoren ins Tschechische.
Arthur Holitscher gehört dazu, Max Zimmering und Leonhard Frank. Sie
übersetzt die Erzählung »Der Aufstand der Fischer von St. Barbara«,
mit der sich die junge Anna Seghers auf der literarischen Bühne
ihren ersten Beifall sowie den begehrten Kleist-Preis holt, und
trägt so dazu bei, sie auch in der Tschechoslowakei bekannt zu
machen.
Bis Anfang 1933 wohnt Jarmila, abgesehen von wiederholten längeren
Prager Zwischenaufenthalten, in Berlin. Sie trägt inzwischen den
Namen Haasová, de facto ist sie etwa ein Jahr mit Willy Haas
verheiratet. Nach der faschistischen Machtübernahme in Deutschland
hält sie sich zeitweise in Frankreich auf. Dann übernimmt sie in
Prag die Kulturredaktion der beliebten Frauenzeitschrift
»Rozsévacka«. Später ist sie Redakteurin bei der »Tvorba«, einer
Zeitschrift für Literatur, Politik und Kunst, die von Julius Fucík
geleitet wird, Mitarbeiterin des »Rudé právo« und anderer
Publikationen.
Als im Vorfeld des Münchner Abkommens und während des spanischen
Freiheitskrieges ein Bertolt Brecht von den renommierten
tschechischen Bühnen verbannt ist, übersetzt sie die »Gewehre der
Frau Carrar«, damit das Stück vom kommunistischen
Arbeiterlaientheaterbund DDOC aufgeführt werden kann. Die Hauptrolle
des Pedro spielt Erwin Geschonnek. »Ich war sogar bei Brecht, er hat
hier im Hotel ‘Europa’ gewohnt, um mir die Autorisierung für die
Übersetzung persönlich geben zu lassen«, erinnert sie sich. In der
Tschechoslowakei, in der sich nach 1933 bekanntlich viele deutsche
Emigranten aufhalten, hat sie manche Arbeit »aus Solidarität
übersetzt, damit es hier erscheinen konnte. Ich habe nicht des
Geldes wegen übersetzt. Damit war doch nicht viel zu verdienen. Ich
habe es getan, wegen der Publizität anderer Werke.«
Mit Vincenz Necas (1903-1972) - den sie kurz bevor die Deutschen im
Jahre 1939 Prag besetzen heiratet - hilft sie deutschen Emigranten
auf verschiedene Weise, in der Tschechoslowakei Fuß zu fassen, sich
eine neue Existenz aufzubauen und die antifaschistische Tätigkeit
fortzusetzen. Vincenz ist es, der schnell dafür sorgt, daß die
populäre »Arbeiter-Illustrierte Zeitung« in Prag unverzüglich
weitergedruckt werden kann, nachdem ihr Erscheinen in Berlin
angesichts der faschistischen Machtübernahme eingestellt werden
mußte. In ihrer Wohnung in der Rooseveltová geht so mancher deutsche
Emigrant ein und aus. Der berühmte Fotomonteur John Heartfield, der
nach seiner abenteuerlichen Flucht über die
deutsch-tschechoslowakische Grenze einige Häuser weiter eine
Unterkunft gefunden hat, ist Sonntags morgens häufiger
Frühstücksgast bei Jarmila und Vincenz.
Die Bekanntschaft mit Kisch aber, die sie im Herbst 1921 im
Romanischen Café geschlossen hat, gibt ihrer Arbeit und ihrem Leben
den entscheidenden Sinn. Der erste Text, den Egonek ihr zur
Übersetzung ins Tschechische anträgt, ist ein Auszug aus seinem
Kriegstagebuch »Soldat im Prager Korp«, die ungeheuer spannende
Stelle »Der Übergang über die Drina«. Jarmila weigerte sich
zunächst, es zu übersetzen, weil sie keine Kriegserfahrung hat, aber
Kisch besteht darauf daß sie es tut, denn er weiß, wie sorgfältig
sie arbeitet.
Kisch, der das Tschechische zwar wie eine zweite Muttersprache
beherrscht, aber seine Texte ausschließlich in deutscher Sprache
verfaßt, ist mit dem Ergebnis ihrer Arbeit höchst zufrieden. Jarmila
wird die von ihm autorisierte Übersetzerin aller seiner Werke ins
Tschechische. Ihr Wirken für Kisch aber besteht nicht allein im
Übertragen seiner Werke ins Tschechische. Jarmila ist in beider
Vaterstadt auch Kischs zuverlässige Stütze bei der Herausgabe seiner
Bücher. Sie hilft bei der Auswahl der Reportagen für die
tschechischen Sammelbände, macht Korrekturen, unterbreitet
Vorschläge für Buchtitel, gibt inhaltliche Ratschläge, verhandelt
mit Verlegern, vertritt vehement Kischs Interessen als Autor. »Es
war nicht nur Übersetzerei, sondern wirkliche Zusammenarbeit. Und
das war das schöne daran«, hat sie mir einmal geschrieben. Wann
immer möglich, trägt sie mit Veröffentlichungen dazu bei, Kischs
Popularität zu fördern. Denn nicht zu allen Zeiten läuten die Prager
Glocken für ihn. Glanzstück ihrer Veröffentlichungen über Kisch ist
der Biographie-Band »Prager Journalist - Egon Erwin Kisch«, den sie
zusammen mit Vincenz Necas im Jahre 1980 veröffentlicht.
*
KISCHS Briefe an Jarmila umfassen einen Zeitraum von mehr als zwei
Jahrzehnten. Wann immer er unterwegs ist, wo immer er sich aufhält,
wenn es irgendwie geht: Jarmila bekommt Post. In manchen Zeiten ist
die Folge dichter, in anderen sind die Abstände größer. Dafür gibt
es unterschiedliche Gründe. Es kann die Situation sein, in der sich
Kisch befindet, die Stimmung, der Arbeitsdruck. Aber stets öffnen
seine Zeilen dem Leser Blicke in wichtige Lebensabschnitte.
Die ersten Briefe datieren aus der Zeit, da die Beiden offenbar
frisch verliebt sind. Für Kisch ist es zugleich jene Periode, die
verbunden ist mit seinem Wechsel nach Berlin und die eine ziemliche
Zäsur in seinem Leben bedeutet. Immerhin ist er 36, um elf Jahre
älter als Jarmila, und hinter ihm liegen bereits ereignisreiche und
dramatische Lebensabschnitte: Die Praxis als Reporter auf
heimatlichem Boden in Prag, wo er jeden und alles kennt, das Terrain
und sein Metier beherrscht; die Jahre des Krieges mit den
furchtbaren Erlebnissen an der Front, die ihn noch lange verfolgen;
die revolutionären Ereignisse in Wien, die er als Kommandant der
Roten Garde und Vorsitzender des revolutionären Soldatenrates
durchlebt, samt all den bitteren Enttäuschungen und zerstörten
Hoffnungen.
Und nun steht er in Berlin gewissermaßen vor einem Neubeginn, muß
sich eine neue Existenz aufbauen und ist natürlich darauf aus, sich
auch hier einen Namen zu machen. Erfreut schreibt er Jarmila, als
ihn die große »Berliner Volkszeitung« einen »König der Journalisten«
nennt. Dann wieder offenbart er: »Was mich betrifft, so habe ich
viel Ruhm, aber wenig Geld, so wenig, wie ich vielleicht noch
niemals in meinem Leben hatte. Aber das kann mir auch nichts
anhaben.« Was Geldmangel betrifft, so vertraut er den Jarmila öfter
an. In Reichtum ist er nie geschwommen.
Der letzte Brief kommt aus New York. Der zweite Weltkrieg ist
vorüber. In wenigen Stunden sticht die »Queen Elisabeth« in See
Richtung Europa. Kisch kündigt Jarmila seine Ankunft an und bittet
sie, zu helfen, daß er in Prag Wohnung bekommt und wieder schnell
Fuß fassen kann.
Dazwischen liegen Buckow bei Berlin und Teufelsmühle bei Cheb
(Eger), »Der rasende Reporter« und »Wagnisse in aller Welt«, Moskau
und Nanking, »Zaren, Popen, Bolschewiken« und »China geheim«,
Bredeene an der Nordsee und Sanary-sur-Mer an der Cote Azur,
Versailles und Kyoto, das »Paradies Amerika« und die »Landung in
Australien«, die Fronten des spanischen Freiheitskampfes gegen den
Putschisten Franco und das Exil in Mexiko.
Als er aus dem »Paradies Amerika« heimgekehrt ist, drängt er
Jarmila, zu ihm in die Teufelsmühle zu kommen, wo er sich mit Gisl
zurückgezogen hat, um in Ruhe sein Buch zu schreiben. Aus
Sanary-sur-Mer teilt er mit, daß er in Berlin »wirklich miese
Verhältnisse zurückgelassen zu haben« scheint, denn großen Ärger
»haben wir mit unserer Hausfrau«; sogar ein Prozeß drohe ihm. Aus
Usbekistan berichtet er, daß er weder Post erhalten hat noch
schreiben kann, denn es gebe »keine Karten, keine Briefmarken, keine
Briefkästen, nur Berge, Wildnis« und er fragt: Was machen wohl
»unsere Bekannten in Berlin, das ‘Tagebuch’, das Romanische ...« In
Nanking, im Sommer 1932, beschäftigt ihn die Frage: »Was willst Du
zu Weihnachten herausgeben? ‘Asien gründlich verändert habe ich auch
noch nicht gesehen.«
Nachdem Kisch aus Frankreich über die Vereinigten Staaten in Mexiko
angelangt ist, kann er für Jahre keine Post mehr nach Prag senden.
Die Tschechoslowakei ist von den Deutschen okkupiert. Briefe von
Egon Erwin Kisch, den die Nazis unmittelbar nach dem Reichstagsbrand
in Berlin verhaftet und nur aufgrund starker Proteste freigelassen
und in die Tschechoslowakei abgeschoben hatten, würden Jarmila - die
bis zur Okkupation unter dem Namen Haasová in linken und liberalen
Publikationen publizierte - zusätzlich in Gefahr bringen.
Aus den Briefen an Jarmila erfährt man viel menschliches, allzu
menschliches zum Schaffen und zur Biographie eines der bedeutendsten
Männer der Feder dieses Jahrhunderts. Sie enthalten Töne, wie man
sie nirgendwo anders bei Kisch findet. Hier hat der berühmteste
Reporter seiner Zeit eben nicht für die Öffentlichkeit geschrieben.
Und natürlich sind die Briefe auch von anderer Art, als jene an den
Bruder Paul und die Mutter, die von enger familiärer Bindung
diktiert sind. Nun ist ein Mensch in sein Leben getreten, dem seine
Liebe gehört. Wer allerdings hofft, Turteltauben-Elegien
vorzufinden, wird enttäuscht sein. Aber Kisch hat Jarmila
unglaublich viele Neuigkeiten über sich und seine Umwelt anvertraut,
wie man sie in dieser Art bislang nirgendwo anders von ihm erfahren
hat : Was er gerade fühlt und woran er denkt, woran er arbeitet und
wie er vorankommt, was er erlebt und wie er finanziell steht, wen er
getroffen und worüber man gesprochen hat, seine Meinung zu wichtigen
politischen Ereignissen und den kleinen Begebenheiten des Alltags.
Man erfährt, was er für ein Arbeitstier er ist, wie er schuftet und
trotzdem häufig bittere Geldnot leidet, daß er abergläubisch ist und
ein Haarspalter, wenn es die Präzision der Arbeit betrifft, und daß
zu seinen Lieblingsspeisen Kartoffeln mit Soße gehören. Die
zahlreichen Namen, die er erwähnt, vermitteln auf neue Art Einblicke
in seinen weitgefächerten Freundes- und Bekanntenkreis, in dem er
einen besonderen Platz einnimmt.
Und dann sind da natürlich die unglaublich interessanten Details
bezüglich seiner Bücher, Reportagen, Artikel und Schriften, ihrer
Übertragung ins Tschechische, ihrer Herausgabe und Veröffentlichung
in Prag. Aufschlußreich sind die berühmten »Fragebögen«, um die
Kisch Jarmila immer dringend gebeten hat. Es geht darum, seine
Arbeiten kritisch zu beurteilen, stets die richtige Formulierung zu
finden, das beste Wort für die tschechische Fassung. Kisch sucht
Kritik mehr als Lob. Und Jarmilas Wertungen und Vorschläge sind für
ihn - nicht nur bezüglich der tschechischen Fassungen, sondern auch
für die deutschen Erstausgaben - von besonderem Wert.
»Die Hauptsache ist, wenn Du mir schreibst, was Dir von den Details
am ‘Case’ gefällt und was Dir nicht gefällt«, schreibt er ihr am 25.
März 1936 aus Versailles während er an seinem Buch »Landung in
Australien arbeitet. »Wenn Du jeden Satz übersetzt, so hast Du doch
die beste Kritik darüber, und Du weißt, wie dankbar ich für jede
tadelnde Kritik bin, wenn ich natürlich auch nicht immer alles
akzeptiere. Also schreib mir, was Dir unklar oder blöd vorkommt. Am
besten, Du legst Dir einen Zettel auf den Schreibtisch und notierst
Dir gleich, was Dir unliebsam auffällt. Es ist zum erstenmal, daß Du
ein ungedrucktes Buch von mir übersetzt, und deshalb kann man alle
Anregungen noch in die deutsche Originalausgabe hineinarbeiten.«
Während Kisch dankbar ist für jede Kritik, schätzt er jederzeit die
Sorgfalt, die Jarmila seinen Arbeiten widmet, würdigt er ihre
wahrlich meisterhaften Übersetzungen. »Aber noch viel herzlicher muß
ich Dir dafür danken, wie Du die Übersetzung von ‘Paradies Amerika’
durchgeführt hast«, schreibt er am 3. Januar 1931. »Ich habe es von
A-Z gelesen, es ist Dein Meisterstück, und eine tierische Arbeit
steckt darin...die Übersetzung ist wirklich großartig.« Solches Lob
war für Jarmila höchster Lohn.
*
GISL Kisch hat in diesem einzigartigen Brief-Stück ebenfalls ihren
Part. Sie schreibt in späteren Jahren, als sie bereits mit Egonek
zusammen lebt, seine Briefe an Jarmila in die Maschine, wenn er aus
Zeitgründen diktiert, anstatt selbst zur Feder zu greifen. Mitunter
ergänzt sie seine Zeilen mit eigenen Mitteilungen. In Zeiten, da
Kisch nicht in der Lage ist, Jarmila direkt zu schreiben, übernimmt
sie es, mit Jarmila den Kontakt zu halten, sie von Egoneks Schritten
und Intentionen zu unterrichten, notwendige und wissenswerte
Informationen mitzuteilen. Auch über den eigenen Alltag berichtet
sie en Detail. So erhält ihre Persönlichkeit neue und schärfere
Konturen. Gisl Kisch tritt heraus aus der Rolle der liebenswürdigen
Gastgeberin, der es lediglich obliegt, immer wieder ihren
ausgezeichneten Kaffee zu kochen, den die zahlreichen Freunde und
Bekannten Kischs so nachhaltig loben und wovon viele Erinnerungen an
sie vordergründig geprägt sind.
Gisl aber ist vor allem die unermüdliche fleißige rechte Hand
Kischs. Zeile für Zeile, Seite für Seite und Buch für Buch werden
von ihr über den Zeitraum von einem viertel Jahrhundert »in die
Maschine gekloppt«. Viele Texte mehrfach, weil Kisch - der die
Reportage in den Rang der Literatur hebt - immer wieder
überarbeitet, mitunter mehrere Neufassungen schreibt, bevor der Text
seinen Qualitätsansprüchen gerecht wird. Und Gisl korrigiert die
Manuskripte, überträgt die Änderungen - arbeitet oftmals bis an die
Grenze ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten, ja, mitunter drohen ihr
gar die Augen den Dienst zu versagen. Aus ihren Briefen an Jarmila,
die Kischs Briefe auf interessante Weise ergänzen, ist zu entnehmen,
welchen Rückhalt sie Kisch gibt, der oft genug nicht die nötige Ruhe
zum Schreiben findet, weil er von einer Veranstaltung zur anderen
rasen muß.
Jarmila und Gisl verbindet zeitlebens eine außergewöhnliche
Freundschaft und Zuneigung, bestimmt durch beider Verhältnis zu
Kisch und seinem Werk, in deren Dienst sie sich selbstlos stellen.
Dieses Verhältnis hat gewiß unterschiedliche Stimmungen und Gefühle
zu überstehen. Sie wissen natürlich von Anfang an voneinander, von
ihrem Platz im Herzen Kischs. Und die persönliche Nähe der einen
oder anderen zu Kisch unterliegt im Laufe der Jahre Wandlungen.
Jarmila scheint häufig seelische Schmerzen zu leiden, die sie krank
machen. Während in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre »das
Fräulein Lyner«, wie Kisch der Mutter gelegentlich mitteilt, fleißig
für ihn Manuskripte schreibt, nimmt »Frau Jarmila« in seinem Leben
einen gänzlich anderen Platz ein. Aber auch, als die Entscheidung
endgültig zugunsten von Gisl gefallen ist, geht Jarmila im »Haus zu
den zwei goldenen Bären« ein und aus. Sie muß Egonek über sein zu
Hause berichten und der Mutter über Egonek.
Egonek und Jarmila bewahren sich nach der Zeit der Liebe ihre tiefe
Zuneigung und herzliche Freundschaft. Und in der Stunde des
Abschieds zur letzten Reise des »Rasenden Reporters« vereinen sich
in der ersten Reihe des Trauerzuges durch Prag hinter dem Sarge jene
drei Menschen, die von allen noch Lebenden Egon Erwin Kisch am
nächsten stehen: Der Bruder Bedrich, Gisl und Jarmila. |
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