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Kisch – ein Jahrhundert-Journalist

Nichts als die Wahrheit

Kisch – Briefe an Jarmila

Vor 70 Jahren – Landung in Australien

Vorhang auf für Egon Erwin Kisch

Verwandte und Bekannte

Artikel – Kommentare – Reportagen

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links:
Das Renaissanceportal des Hauses »Zu den zwei goldenen Bären«. Kischs Großvater Jonas Enoch Kisch hat es im Jahre 1866 für 100 000 Gulden gekauft. Foto: Klaus Haupt

rechts:
»Prager Kinder«, erschienen 1913 im Verlag A. Haase, Prag. Das Buch enthält Lokalreportagen
aus der Zeit bei der 1828 gegründeten führenden deutschen Tageszeitung »Bohemia«, die Kisch
1906 als Lokalreporter angestellt hatte.
Reproduktion:
Klaus Haupt – Alle Rechte vorbehalten

 

 

Aus Anlass des 60. Todestages von Kisch (29. April 1885 - 31. März 1948) hat an der Karls Universität Prag am 2. Oktober 2008 eine Kisch-Konferenz stattgefunden. Die Konferenz wurde vom Primator von Prag (Oberbürgermeister), MUDr. Pavel Bém, eröffnet. Mitorganisator war der tschechische Klub von Autoren der Faktenliteratur.
Der Vorsitzende dieser Berufsvereinigung, der Historiker PhDr. Karel Richter, hielt das Einleitungsreferat. Als einziger ausländischer Redner war Klaus Haupt geladen, um über Kischs Jahre in Berlin 1921 bis 1933 zu referieren.

Kisch – ein Jahrhundert-Journalist
Die Jahre in Berlin 1921 bis 1933 / Werk und Wirkung
Vortrag am 2. Oktober 2008 an der Karls-Universität, Prag

Als man Kisch hier in Prag vor 60 Jahren das letzte Geleit gab, da geschah das unter großer Anteilnahme und mit großen Ehren. Nie wieder ist ein Journalist und Schriftsteller so zu Grabe getragen worden. Vom Pulverturm über den Graben, den Wenzelsplatz hinauf bis zum Nationalmuseum säumten trauernde Menschen den Weg. Hinter der Lafette mit dem Sarg schritt viel Prominenz. Der Primator war dabei, Václav Vacek, ein Freund aus Kischs jungen Jahren. Auch Antonín Zápotocký, der Sohn des Mitbegründers der tschechischen Sozialdemokratie, Ladislav Zápotocký, ein Mann der Gewerk-
schaften, ein Schriftsteller, und nun stellvertretender Ministerpräsident. Er hatte Kisch am Krankenbett versprechen müssen, die Trauerrede zu halten.

Kisch ist ein Jahrhundert-Journalist. Wie kein anderer seiner Kollegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die gleich ihm eine deutsche Feder geführt haben, hat er Maßstäbe für die journalistische Arbeit gesetzt, die noch heute Gültigkeit haben. Wie kein anderer seiner Kollegen hat er nachhaltige Zeitzeugnisse von allen Kontinenten geliefert und mit seinen Berichten wie auch als Persönlichkeit seinen Berufsstand geprägt
Hier, in dieser Stadt, hatte er seine ersten journalistischen Erfolge. Hier in Prag ist er durch die »Gassen und Nächte« gestreift, hat er seine »Abenteuer« erlebt und die »Prager Kinder« kennen gelernt – und mit diesen Titeln drei seiner ersten Bücher versehen.
In dieser Stadt führte er auch das erste Interview mit einer internationalen Persönlichkeit von Weltgeltung: Mit Thomas Alva Edison – dem nordamerikanischen Erfinder, dem Mann mit der Glühbirne, dem Grammophon und hundert weiteren gravierenden technischen Neuheiten. Als Edison im September 1911 auf seiner Europa-Reise im Hotel de Saxe eintraf, war Kisch bereits zur Stelle. Und dem berühmten Amerikaner hat das Interview mit dem jungen Reporter offenbar ausgezeichnet gefallen. Denn er schenkte ihm ein silbernes Zigarettenetui mit eingravierter Widmung – das richtige Geschenk für den »rauchenden Reporter« aus Leidenschaft.
Hier in Prag hat der junge Kisch auch das bis auf den heutigen Tag immer wieder zitierte Musterbeispiel von Enthüllungsjournalismus geliefert: Mit jener legendären Nachricht in der »Bohemia« vom 28. Mai 1913. In Form eines Gerüchts und eines Quasi-Dementis hat Kisch die Öffentlichkeit informiert, dass Oberst Alfred Redl, Generalstabschef des 8. Prager Korps der k.u.k. österreichisch-ungarischen Armee, in eine Spionageaffaire verwickelt ist und sich deshalb in Wien erschossen habe.
Schon zu jener Zeit war Kisch eine außergewöhnliche Erscheinung, ein Mann mit großartigen Fähigkeiten, mit besonderem Charisma und Charme. Zu Weltgeltung aber ist er erst in Berlin gelangt. »König der Journalisten« nannte man ihn dort. Und als »König der Reporter« hat ihn dann später auch der einflußreiche nordamerikanische Verleger Alfred A. Knopf in einer Werbeschrift für das geplante autobiografische Buch »Crawling in the Inking River« angekündigt.
Ich bin ein Berliner und will deshalb über Kischs Aufenthalte in meiner Heimatstadt sprechen. Über sein Wirken an der Spree. Über sein Werk aus dieser Zeit, seine Aktivitäten, seinen Einfluß. Berlin ist immerhin die Stadt, in der er die längste Zeit einen festen Wohnsitz außerhalb von Prag gehabt hat.
Dreimal ist Kisch nach Berlin gegangen, um sich dort eine Basis für seine journalistische Arbeit zu schaffen.
Das Erstemal hat er sich Ende 1905 nach Berlin begeben. Er hat das Wintersemester der Journalistenschule von Richard Wrede belegt, das vom September 1905 bis zum März 1906 dauerte . Der Zeitungswissenschaftler und Publizist Richard Wrede und seine Bildungsstätte für angehende Journalisten waren renommiert. Kisch holte sich dort das erste Rüstzeug für seinen künftigen Beruf und machte sich mit der Zeitungsarbeit vertraut: Lernte Nachrichten, Depeschen, Korrespondenzen formulieren; übte sich im Redigieren; befaßte sich mit verschiedenen journalistischen Genres, mit Roman- und Theaterkritik, lieferte Stilproben und dergleichen. Das machte er mit Erfolg, wie aus einem Brief nach Prag zu entnehmen ist. Mit den Berlinern aber konnte sich der Zwanzigjährige damals noch gar nicht anfreunden. Seinem älteren Bruder Paul schrieb er am 11. November 1905:
»Berlin im allgemeinen ist direkt furchtbar. Trotz der Annehmlichkeiten, welche das selbständige, ungestörte Leben bietet, wäre ich lieber in Prag. Der Berliner ist im allgemeinen ein Ekel, im besonderen zwei Ekel, die Berlinerin ein ganzes Konglomerat von Ekeln.«
Das zweite Mal begab er sich im Sommer 1913 nach Berlin. Nun hatte er bereits seine Erfahrungen und Erfolge. Prag war ihm wohl zu klein geworden als Wirkungsstätte. In der deutschen Millionenmetropole wollte er Fuß fassen. Er schrieb für das »Berliner Tageblatt« aus dem Mosse Verlag, die einflußreiche liberale Tageszeitung der Hauptstadt. Zugleich wurde er am »Deutschen Künstlertheater Sozietät« als Dramaturg und – wie man heute sagen würde – als public relations officer engagiert. In der Funktion als Dramaturg ist er, was er mit besonderem Vergnügen nach Prag berichtete, als »unmittelbarer Nachfolger Gerhard Hauptmanns« benannt worden – diesem leuchtenden Stern am deutschen Theaterhimmel jener Zeit. Im Sommer 1914 wurde seine Berliner Karriere allerdings jäh unterbrochen. Er mußte zurück in die Heimat, um als Korporal im k.u.k. Infanterieregiment Nr. 11 an die Front nach Serbien zu gehen.
Zum dritten Mal trifft Kisch im November 1921 in Berlin ein. Und dieser Aufenthalt mit festem Wohnsitz – wenngleich auch wechselnden Wohnungen – wird rund ein Jahrzehnt dauern. Berlin – das ist zugleich einer seiner produktivsten, erfolgreichsten Lebensabschnitte. Hier befinden sich nun seine wichtigsten beruflichen Wirkungsstätten, Redaktionen und Verlage. Hier plant er Reportagereisen in die verschiedenen Länder Europas, in die asiatischen Sowjetrepubliken und andere Teile der jungen Sowjetunion, nach Nordafrika, ins »Paradies Amerika«, ins geheimnisvolle China. Hier plant er den größten Teil seiner Bücher, die bis zum Jahre 1933 in Berlin erscheinen.
Hier schreibt er Beiträge für namhafte Publikationen. Für die liberale »Weltbühne« des späteren Nobelpreisträgers Carl von Ossietzky; für die »Arbeiter-Illustrierte Zeitung« aus dem Münzenberg-Konzern, die mit einer Auflage von 350 000 Exemplaren das auflagenstärkste linksorientierte Periodikum der Weimarer Republik darstellt; er schreibt für den »Berliner Börsen-Courier«, die »Rote Fahne« und die »Welt am Abend«; für die »Berliner Morgenpost«, die »Vossische Zeitung«, die »Frankfurter Zeitung«; die »BZ am Mittag« und »Zeit im Bild«; für die Zeitschriften »Das Tagebuch«, »Neue Bücherschau« und »Die literarische Welt«. Im bunten deutschen Blätterwald gibt es viele, die Kisch als Autor schätzen.
Kisch ist noch kein Jahr in Berlin, da arbeitet er bereits an einem Buch, das es in dieser Art in Deutschland noch nicht gibt. Seinem Journalisten-Bruder Paul schreibt er am 28. Juli 1922:
»Ich bin augenblicklich im Auftrage eines Verlages mit der Herausgabe eines Riesenwerkes des Titels ‚Klassischer Journalismus‘ beschäftigt, daß bloß verstorbene Autoren (seit Luther) umfaßt, bloß markante Zeitungsartikel hervorragender Männer...«
Am Ende hat Kisch 100 Leitartikel, Gerichtsberichte, Feuilletons, Theaterkritiken, Musik- und Kunstreferate, Literaturberichte, Beiträge »In eigener Sache« sowie »Tagesnachrichten und Berichte auswärtiger Korrespondenten« von 78 Autoren aus rund zwei Jahrtausenden ausgewählt. Und er präsentiert uns großartige Namen: Plininius den Jüngeren, Schiller, Heine, Dickens, Zola, Dostojewski und Havlicek-Borowsky; Benjamin Franklin, Fürst Otto von Bismarck und Napoleon Bonaparte; Marx, Massinini, Lasalle und Voltaire – eine Plejade großer Geister. Den einzigen Vorwurf, den man Kisch machen könnte ist der: Er – dem die Hebamme Frau Rosenthal prophezeit hatte, er werde ein Herzganeff sein, ein Liebling der Frauen, denn er hatte ein Grübchen am Nabel – dieser Egonek hat nicht eine einzige Vertreterin des schönen Geschlechts in seine Sammlung aufgenommen.
Jeden Beitrag hat Kisch mit einer kurzen Einleitung über Autor, Thema, Zeit, Zusammenhänge und Hintergründe versehen. Es sind kunstvolle, aussagestarke Miniaturen, ihrerseits kleine Meisterwerke. Kisch ist 38 Jahre alt, als 1923 im Berliner Kämmerer Verlag das Buch erscheint: Klassischer Journalismus – die Meisterwerke der Zeitung. Im Vorwort fixiert er eine seiner entscheidenden journalistischen - und menschlichen – Maximen, die ihn durchs ganze Leben und sein gesamtes Werk begleiten wird:
»Zu lernen ist, daß der Geistigkeit nur durch die Geistigkeit zu begegnen ist, durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine Lüge, zu lernen ist, daß nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache. Und daß es nichts hilft, wenn man zu Lande unbesiegt ist und zu Wasser unbesiegt ist, sondern daß man den Krieg der Menschheit nur verlieren kann, wenn man im Geist besiegt wird.«
Auch wenn er später diese Aussage insofern modifizierte »daß die bessere Sache« eben auch »die besser verfochtene Sache« sein müsse: Das war eine klare Absage gegen räuberische Kriege, gegen Terror und Terrorismus, gegen jegliche Gewalt, verlogene Manipulationen und eine miserable Justiz. Der »Klassische Journalismus« – das ist ein einzigartiges Lehrbuch. Es ist ein Standardwerk. Für Journalisten, die einen engagierten Qualitätsjournalismus anstreben, hat es als Lehrbuch seinen Wert bis auf den heutigen Tag. Kischs berühmter Kollege Kurt Tucholsky urteilte unmittelbar nach Erscheinen des Buches:
»Das ist eine Fundgrube... Kisch hat da etwas sehr gutes gemacht – ich möchte es jedem Journalisten zu Weihnachten schenken.«
Im Jahr darauf – 1924 – erscheinen zwei weitere Werke, mit denen Kisch von sich reden macht. Zunächst ist es im Verlag Die Schmiede »Der Fall des Generalstabschefs Redl«. In der Reihe »Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart« gibt Kisch nunmehr eine komplette Darstellung mit allen inzwischen verfügbaren und recherchierten Fakten über Hintergründe, Zusammenhänge und Details jenes Aufsehen erregenden Spionagefalles, der seinerzeit in Wien, Moskau, Paris, Rom und anderen Hauptstädten Europas Nervosität ausgelöst hatte.
Und gegen Ende des Jahres kommt dann im Erich Reiß Verlag jenes große Buch heraus »mit den merkwürdigsten meiner Reportagen«, wie Kisch nach Hause berichtet: »Der rasende Reporter«.
Mit diesem Buch hat sich Kisch endgültig in Berlin etabliert. Damit ist der Durchbruch auf dem deutschen Büchermarkt eingeleitet. Bis 1933 wird das Buch 15 Auflagen erreichen. Alle Leser, Kritiker und Kollegen sind des Lobes voll. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Paul Wiegler – Kischs Förderer und Zimmerkollege aus der Zeit bei der »Bohemia« in Prag, Autor der seinerzeit maßgebenden »Geschichte der Weltliteratur« – würdigte den »Rasenden Reporter« als das beste Buch des Jahres. Überdies habe es mit seinen »gesammelten Energien« die Literatur gesprengt – freilich in den damals gültigen Vorstellungen.
Tatsache ist – und dies ist ein weiteres bleibendes Verdienst Kischs: Er hat die Reportage, ursprünglich eine nicht besonders angesehene Gattung, zu einem literarischen Genre gemacht. Die Reportage als Literatur – das ist sein Werk. Der in Deutschland führende Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicky hat in einer Arbeit über Kisch sinngemäß konstatiert:
Die von ihm für die Reportage entwickelten und angewandten Prinzipien seien heute allgemeine Praxis – und kaum jemand würde sie auf den »rasenden Reporter« zurückführen. Ein Autor, der mit seinem Werk so das Schreiben der Reporter beeinflußt hat, so möchte ich hinzufügen, kann erfolgreicher nicht sein.
Und Reich-Ranickys populärer Schriftsteller- und Kritikerkollege Helmut Karasek stellte fest: Ohne Kisch gäbe es in der deutschen Presse nicht die Seite Drei. Die »Seite Drei« – so auch benannt mit der Seitenkustode – ist die Paradeseite mit den glanzvollen Reportagen.
Was ist das Besondere am »Rasenden Reporter« mit seinen 53 Beiträgen unterschiedlichster Thematik. Kisch charakterisiert es folgendermaßen: Die Leser »sahen sich verblüfft einem Autor gegenüber, der heute in Cuxhafen den Rekord-Personendampfer ‚Vaterland‘ zur Stapelfahrt besteigt und morgen ohne Übergang als Hopfenpflücker ins böhmische Land zieht – auf Seite zwanzig nächtigt er im Londoner Nachtasyl und auf Seite vierundzwanzig überfliegt er mit einem Hydroplan Venedig – all das ohne Übergang, ohne Verbindung, als spränge er, von Raum und Zeit, von Hindernissen und Kosten unabhängig, just nach seiner Laune kreuz und quer.«
Aber Kisch hat dem Leser auch ehrlich gesagt, wie dieses Buch zustande gekommen ist. Im Vorwort konstatiert er:
»Die nachstehenden Zeitaufnahmen sind nicht auf einmal gemacht worden. Subjekt und Objekt waren in verschiedenen Lebensaltern und in verschiedensten Stimmungen, als die Bilder entstanden, Stellung und Licht waren höchst ungleich.«
Wie wir wissen, ist der Buchtitel »Der rasende Reporter« zum Synonym für Kisch geworden – zu seinem Markenzeichen. Und verständlich ist, daß sich Leser diesen Autor nun als eine Art »Hans Dampf in allen Gassen« vorgestellt haben. Seine Freunde, alle ihm nahestehende Personen, die seinen Arbeitsstil kannten, haben es klargestellt, daß er keineswegs ein Schnellschreiber gewesen ist. Sondern dass er mit Sorgfalt und Bedacht, mitunter auch sehr mühevoll die Feder geführt hat, dass er oftmals tage-, ja, wochenlang nach dem rechten Wort, dem einleuchtenden Bild gesucht hat, dass er an Formulierungen und Sätzen feilte und feilte.
Kischs jüngerer Freund und Berufskollege Theodor Balk – übrigens der Mann der in diesem Sommer verstorbenen Grand Dame der deutschsprachigen Prager Literatur, Lenka Reinerová – hat es kurz und knapp formuliert:
Kisch sei »als Reporter eher gründlich, enzyklopädisch, dialektich, geistreich, witzig, kurz alles eher als rasend.«
Allerdings, das muß ich als Berliner hinzufügen: Rasend war damals auch ein Modewort. Alles war rasend: Rasend aufregend, rasend interessant, rasend spannend, man war rasend neugierig, in rasender Hast oder rasender Eile – und was immer alles rasend sein konnte.
Den »Rasenden Reporter« hat Kisch dann um weitere »Reporterbände« ergänzt – im gleichen Stil, nach ähnlichen Prinzipien, aber mit Blick auf soziale Thematik und soziales Engagement weiter entwickelten Auffassungen über Wesen und Aufgabe der Reportage. Auch diese Bände erschienen - in gleicher Aufmachung - zuerst im Erich Reiß Verlag Berlin: »Hetzjagd durch die Zeit« und »Wagnisse in aller Welt«.
Jahr für Jahr wurden weitere Bücher mit unterschiedlichster Thematik verlegt: »Soldat im Prager Korps«, später erschienen unter dem Titel »Schreib das auf, Kisch« – »Die gestohlene Stadt« – »Zaren, Popen, Bolschewiken« – »Kriminalistisches Reisebuch« – »Paradies Amerika« – »Die Reise um Europa in 365 Tagen« (zusammen mit seinem Freund Jaroslav Hasek) – »Prager Pitaval« – »Sieben Jahre Justizskandal Max Hoelz« – »Asien gründlich verändert« – »Cina geheim«. Wie gesagt: Berlin war eine der produktivsten und erfolgreichsten Schaffensperioden im Leben von Kisch.
Wenn vom Geheimnis seiner Arbeit als Reporter die Rede ist, dann muß man berücksichtigen, dass sich Kisch schon seit dem Jahre 1918 mit theoretischen und praktischen Fragen der Literatur und des Journalismus befaßt hat. Schon damals hat er gewissermaßen eine »kleine Theorie der Reportage« entwickelt. Und über die Jahrzehnte hinweg hat er sich immer wieder theoretischen Fragen der Reportage zugewandt. Auch während seiner Berliner Zeit. Zwar gibt es aus der Feder des »Rasenden Reporters« keine in sich geschlossene »Theorie der Reportage«, aber wenn man sucht und alles zusammenträgt, was Kisch im Laufe seines Lebens zu diesem Thema gesagt hat, dann kann man getrost feststellen:
Wer ein guter Reporter werden will, der findet bei Kisch den roten Faden, der findet Ratschläge, Prinzipien und Tips an die er sich besten halten kann. Es würde zu weit führen, hier ausführlich auf die Kischischischen Elemente der Reportagetheorie einzugehen. Aber einige der wichtigsten Aspekte – die zugleich für Kischs in Prag geformten Charakter sprechen – möchte ich dennoch erwähnen.
Das wäre zunächst einmal sein unerschütterliches Verhältnis zur Wahrheit. Zur – wie er es einmal sagte – »dokumentarischen Wahrheit«. Was bedeutet, dass der Reporter die Aufgabe hat, die Hintergründe, die Zusammenhänge hinter dem Augenschein, hinter dem, was er gesehen hat, zu erhellen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, benötigt der Reporter eine Fähigkeit, die Kisch als »logische Phantasie« bezeichnet hat. Fragen wir ihn, was das für den Reporter bedeutet:
»Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, es bedarf aber auch eines Fernrohrs: der ‚logischen Phantasie‘. Denn niemals bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes, aus den aufgeschnappten Äußerungen der Beteiligten und Zeugen und aus den ihm dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage. Er muß die Problematik des Vorfalles, die Übergänge zu den Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten, daß die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal ist nun, daß diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich der Reporter von jedem anderen seiner Gattung, hier zeigt sich der Grad seiner Begabung.«
Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Kischs Reportagetheorie besteht in der sozialen Aufgabe, im sozialen Engagement, in der Wahrheit »sozialer Erkenntnis«. Bereits in seinen frühen Streifzügen als Lokalreporter für die »Bohemia« hat das für ihn eine wesentliche Rolle gespielt. Nachzulesen in seinen Büchern mit den Skizzen aus dieser Zeit »Abenteuer in Prag« und »Aus Prager Gassen und Nächten«. Da schreibt er über »Herabgekommene und solche..., in deren Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bekannt ist, daß es irgendwo Wohlstand gebe.«
Der sozialdemokratische Kulturredakteur Antonín Macek – der als erster Kischs Werke für eine Buchausgabe ins Tschechische übertragen hat – bescheinigte Kisch schon frühzeitig »das tiefe Erkennen der Wurzeln der menschlichen Not«, worin er Kischs »Sozialironie« begündet sah. Macek verglich Kischs Arbeiten aus jener Zeit mit den Zeitungs-Skizzen des Engländers Boz, dem Pseudonym des jungen Charles Dickens.
Was die Wurzeln der Reportage mit sozialem Engagement betrifft, so gibt es auch da eine interessante Aussage des »Rasenden Reporters«. Zitat:
»Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, an Plinius den Jüngeren, der dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht über das Erdbeben von Pompeji lieferte, an Helfrich Sturz, den Freund Lessings, an Georg Forster, den wegen seiner Zuneigung zur Französischen Revolution verfemten deutschen Klassiker, an Charles Dickens, der eindringlich auf das Londoner Elend hinwies, an Henry M. Stanley, der von seiner Zeitung ausgesandt wurde, um den verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und einen ganzen Erdteil erforschte, vor allem aber an Emile Zola, der die Probleme der neuen Zeit an Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das zeigte, woran sie täglich ahnungslos vorübergingen oder ahnungslos beteiligt waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen, das Warenhaus, die Waschküche, die Börse, die Budike, die Kohlengrube, den Acker, die Fabrik und den Krieg, wie er wirklich ist.«
In Berlin ist Kisch auch zwei Verbindungen eingegangen, die bis zum Ende seines Lebens halten sollten. Im November 1925 ist er in die Kommunistische Partei Deutschlands eingetreten. Und bereits kurz nach seiner dritten Ankunft in Berlin, im November 1921, lernte er im legendären »Romanische Café« – jener Institution, in der er dann auch seinen Stammtisch hatte – eine große Liebe kennen: Jarmla Haasová, geborene Ambrozová, eine Pragerin im Alter von 25 Jahren, die bereits im Frühjahr 1921 nach Berlin gegangen war. Sie wurde die von Kisch autorisierte kongeniale Übersetzerin aller seiner Werke ins Tschechische, seine Interessenvertreterin in Prag bei Verlagen und Redaktionen.
Es würde zu weit führen, hier ins Detail der Verbindung und fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Kisch und Jarmila zu gehen. Das wäre Thema eines gesonderten Vortrages. Interessant auch unter dem Aspekt, dass sie bei jüngsten Buchveröffentlichungen zum 125. Geburtstag von Kafka Erwähnung gefunden hat. Sie war nämlich seit dem Besuch des Mädchengymnsiums »Minerva« in Prag eine enge Freundin von Milena Jesenská und in diesem Zusammenhang in Begegnungen mit Kafka involviert.
Zu Jarmilas Verdiensten – seit 1938 verheiratete Haasová-Necasová – gehört auch dies: Der Titel »Rasender Reporter« – das war ihre Idee. Im letzten Buch, das Kisch ihr kurz vor dem ersten Schlaganfall geschenkt hatte – es waren die »Entdeckungen in Mexiko« aus dem Wiener Globus-Verlag – lautete die Widmung:
»Für Jarmila, Autorin der Bezeichnung ‚rasender Reporter‘, der ich vollkommen zustimme.«
Und als Kisch dann in Prag zu Grabe getragen wurde, da gingen in der ersten Reihe der Trauernden die Personen, die ihm am Nächsten gestanden haben: Bedrich, sein jüngster und einziger noch lebender Bruder – zwei sind in deutschen Konzentrationslagern hingemordet worden, einer im Ersten Weltkrieg gefallen; seine Frau Gisl und Jarmila Haasová-Necasová.
Kehren wir zurück nach Berlin. Kischs dritter Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt ist ebenfalls abrupt beendet worden. Diesmal durch den Terror der faschistischen Machthaber. Am 28. Februar 1933, in aller Hergottsfrühe nach dem Reichstagsbrand, wurde er in seinem Quartier in der Güntzelstraße verhaftet. Zunächst brachte man ihn ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Einige Tage darauf wurde er ins Zuchthaus Spandau gesperrt.
Kisch gehörte zu den meistgehaßten Journalisten und Schriftstellern der deutschen Faschisten. Er stand ganz oben auf ihrer schwarzen Liste – so wie seine Werke auch ganz oben auf der Liste jener Bücher standen, die bald darauf am 10. Mai den Flammen übergeben worden sind. Kisch war für sie ein rotes Tuch, weil er mit seiner Autorität schon seit Jahren viele Tribünen – Versammlungen, Konferenzen – genutzt hatte, um seine Berufskollegen wie auch die Öffentlichkeit vor der heranziehenden faschistischen Gefahr zu warnen und gegen den Krieg zu mobilisieren. So, wie er das dann auch in den kommenden Jahren getan hat, in Frankreich, Australien, Spanien, Mexiko.
Kisch war bekanntlich tschechoslowakischer Staatsbürger und so mußte er aufgrund von diplomatischen Initiativen aus Prag wieder freigelassen wer- den. Am 11. März 1933 hat man ihn unter Polizeibewachung an die tschechoslowakische Grenze abgeschoben. Damit war Kischs dritter Aufenthalt in Berlin endgültig beendet.
In Prag angekommen, nahm er sofort wieder die Feder zur Hand und schrieb den Bericht »In den Kasematten von Spandau«. Es war dies der erste, auch international beachtete Bericht eines Augenzeugen über die Verbrechen der Faschisten in Deutschland, über grausame Mißhandlungen, blutige Folter und Totschlag von namenlosen Arbeitern, berühmten Intellektuellen und namhaften Politikern. Kischs Bericht ist zuerst von der »Arbeiter-Illustrierte Zeitung« veröffentlicht worden. Sein Verhalten in der Berlin wie auch in späteren Zeiten geht konform mit dem Thema dieser Konferenz: Er ist entschieden aufgetreten gegen den Faschismus. Und die Reportagen und Bücher, die der Internationalist Kisch von allen Kontinenten lieferte, sie haben den Lesern das Verständnis für Menschen anderer Kulturen ins Haus gebracht. Es sind noch immer wunderbare Beiträge gegen Fremdenfeindlichkeit.
Die Rezeption der Kischischischen Werke in Deutschland hat einen wechselhaften Verlauf genommen. In der Weimarer Republik sind seine Bücher immer wieder aufgelegt worden: »Prager Pitaval« – 10 Auflagen. »Schreib das auf, Kisch – 10 Auflagen. »Paradies Amerika« – 32 Auflagen. Im »Tausendjährigen Reich« war er natürlich verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er zunächst in der damaligen Ostzone ein schnelles come back erlebt. Der neugegründete Aufbau-Verlag hat sich seiner angenommen und schon im Herbst 1947 war der erste Kisch auf dem Ladentisch: Sein autobiografisches Buch »Marktplatz der Sensationen«.
Es war, nebenbei gesagt, auch das erste Buch, das ich mir damals nach dem Kriege von meinem Lehrlingsgeld gekauft habe.
Nach Gründung der DDR ist Kisch dann in schönen, sorgsam betreuten Ausgaben und Auflagen verlegt worden. Manche meinen, er sei dort als ein Säulenheiliger behandelt worden. Natürlich ist der Mann aus dem Prager »Bärenhaus«, der jüdische Kommunist, der »Rasende Reporter«, dieser Meisterjournalist ist ein Vorbild für junge Journalisten gewesen, dem es nachzueifern galt.
In der Bundesrepublik ist Kisch lange Jahre von einflußreichen Kräften mit spitzen Fingern angefaßt worden – so, wie man übrigens auch Carl von Ossietzky, Bert Brecht, Eugen Kogon oder sogar Heinrich Heine mit spitzen Fingern angefaßt hat. Eine Bresche in die öffentliche Anerkennung von Kisch hat der Hamburger Verleger Henry Nannen, Chef der einflußreichen Illustrierte »stern« im Jahre 1979 geschlagen: Er stiftete einen Egon-Erwin-Kisch-Preis für Journalisten, der alljährlich in mehreren Kategorien vergeben worden ist. Dieser Preis ist zwar vor einigen Jahren in Henry-Nannen-Preis umgewidmet worden, aber die Krone der Schreiber, die Reportage, wird nach wie vor als Egon Erwin Kisch Preis verliehen. Zu Kischs 100. Geburtstag im Jahre 1985 hat der Journalistenverband der DDR ebenfalls einen Kisch-Preis gestiftet, mit dem junge Journalistinnen und Journalisten für herausragende Reportagen ausgezeichnet worden sind.
Wie hier in Prag, so ist nun auch in Berlin Kischs 60. Todestag zum Anlaß genommen worden, Kisch auf besondere Weise zu würdigen. Erstmalig ist in der deutschen Hauptstadt eine Kisch-Ausstellung gezeigt worden. Und zwar vom 31. März bis 16. Mai in der Mediengalerie des Hauses der Buchdrucker, einem historischen Gebäude aus jener Zeit, in der Kisch in Berlin tätig gewesen ist. Organisatoren und Schirmherren dieser Ausstellung – mit dem Kurator Marcus Patka aus Wien – waren der Landesverband Berlin-Brandenburg der großen Gewerkschaft ver.di, der Schriftstellerverband und die deutsche journalisten union. Begleitend zur Ausstellung fanden Lesungen aus Kischs Büchern statt sowie Diskussionen über zeitgenössische Probleme des Journalismus. Ein Berliner Verlag, der sich vornehmlich jüdischer Thematik widmet, hat in seiner noblen Reihe »Jüdische Miniaturen« mit Biografien prominenter jüdischer Persönlichkeiten von Moses Mendelsson bis Kurt Tucholsky zum 31. März diesen Jahres auch Egon Erwin Kisch herausgebracht.
Das Goldene Prag kann stolz sein auf diesen Sohn ihrer Stadt – diesen Zeitgenossen von Kafka, dessen 125. Geburtstag hier wie auch in Deutschland auf vielfältige Weise gewürdigt worden ist. Gleich Kafka ist auch Kisch eine Institution. Man muß nicht einmal den Vornamen nennen, wenn von ihnen die Rede ist. Einfach: Kisch.
Dass der Primator sich zu Kischs Fürsprecher macht, ehrt ihn und das Goldene Prag. Es wäre großartig, wenn es ihm gelingen würde, im Haus »Zu den zwei goldenen Bären« in der Melantrichová bis zum 125. Geburtstag des »Rasenden Reporters« am 29. April 2010 wenigstens einen Raum in ein kleines Kisch-Museum zu verwandeln. Zur Ehre Prags und ihres bedeutenden Sohnes. Und zur Freude der Touristen aus aller Welt.
Mein Anliegen ist es nicht gewesen, einem gewissen Zeitgeist folgend, im Leben und Werk von Menschen herumzustochern, um sie verächtlich zu machen – nur, weil sie Kommunisten gewesen sind. Es ging mir auch nicht um eine Auseinandersetzung mit Kritikern, die am gedeckten Tisch sitzen und aus heutiger Sicht über Meinungen und Taten des streitbaren – und auch umstrittenen – Vollblutjournalisten Kisch urteilen, der oft dem Elend in die Augen geblickt hat und am Hungertuche nagte – und der auch unter großen Gefahren gegen Krieg und den mörderischen deutschen Faschismus gekämpft hat. Ich will jene unterstützen, die – frei von ideologischen Scheuklappen - Kisch den ihm gebührenden Platz einräumen. Immerhin: Im Mai 1938 – bei den letzten freien Wahlen vor dem Einfall der deutschen Truppen – ist er in den Stadtrat von Prag gewählt worden. Es gibt viele Urteile über ihn. Ein sehr treffendes stammt von dem deutschen Schriftsteller Leonhard Frank. Schon vor dem ersten Weltkrieg hat er Kisch kennen gelernt und sagte nach dem Tod seines Freundes:
»Kisch hatte eine Eigenschaft, die wenige Menschen haben - er war ein echter Freund... Seine Bücher leben, und sie werden länger leben als die der Herren, die durch die geschichtlichen Ereignisse der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nichts dazu gelernt haben.«
Es war mir ein Vergnügen, an dieser traditionsreichen Karls-Universität für Kisch sprechen zu dürfen.

 

 
 

 

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