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Artikel – Kommentare – Reportagen
2x60 = Kisch 120
Dieser Tage ist mir ein auf den ersten Blick unscheinbares Heft in
die Hände gekommen, das im Mai 1945 in London erschienen ist,
herausgegeben im Verlag der Einheit, gedruckt in der berühmten
Chancery Lane. Es ist ein Heft aus der Schriftenreihe der Vertretung
der demokratischen Deutschen aus der Tschechoslowakei mit dem Titel
»Stimmen aus Böhmen«. Gewidmet ist es einem Menschen: »Egon Erwin
Kisch zum 60. Geburtstag«. Der Antiquar hat das Exemplar mit »sehr
selten« annonciert und versichert, dass dieses »Geburtstagsheft
derzeit weltweit das einzige Exemplar ist,« das sich im Handel
befindet. Was macht da der Kisch-Verehrer und -Forscher, auch wenn
der Preis entsprechend einzigartig ist – er greift zu.
Dieses Heft der demokratischen Deutschen aus der Tschechoslowakei,
die angesichts des deutschen Überfalls auf ihre Heimat in den Jahren
1938/39 nach Großbritannien emigriert waren, ergänzt nun in meiner
Kisch-Sammlung ein anderes Geburtstagsheft, das zum selben Anlaß von
Emigranten auf einem anderen Kontinent heraus gegeben wurde, nämlich
in Mexico. Titel: »Egon Erwin Kisch – Seine Reise um die Welt in 60
Jahren«. Und so ergeben die beiden Hefte mit Hilfe der kleinen
Kunstrechnung 2 x 60 = Kisch 120 jenen aktuellen Anlaß, der hier
genannt sein soll: Vor 120 Jahren wurde Egon Erwin Kisch in Prag
geboren, am 29. April 1885.
Mutter Kisch berichtete ihm später, die Hebamme Karolina Rosenthal
habe ihr nach seiner Geburt im Haus »Zu den zwei goldenen Bären« in
der Melantrichová gesagt: »Du hättest ein Grübchen im Nabel, Du
wirst ein Herzganeff sein.« Egonek, wie ihn Mutter, Vater, die vier
Brüder und die zahlreichen Freunde – und Freundinnen – auf allen
Kontinenten nannten, ist wahrlich ein Herzganeff geworden, ein
Herzensbrecher. Aber er hat nicht nur die Herzen schöner Frauen
gebrochen, er hat die Herzen ungezählter Leser erobert. Und als Mann
der Feder ist er eine Jahrhundert-Erscheinung geworden. Weithin
bekannt als »Rasender Reporter« wissen die Kenner, mit welcher Mühe
und Sorgfalt, mit welchem Zeitaufwand er die Worte wendete, die
Sätze formte, die Manuskripte vollendete und die Reportage zu einem
literarischen Genre entwickelte. Dabei hat er in einem Elfenbeinturm
niemals gesessen. Stets hat er an den Kämpfen seiner Zeit teil
genommen. Unvergessen ist sein Sprung auf den fünften Kontinent im
November 1934. In fünfeinhalb Meter Höhe hatte er sich in Melbourne
über die Reling des britischen Liners »Strathaird« geschwungen, weil
ihm die australischen Behörden den regulären Landgang verweigerten,
er aber den Auftrag des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus
unbedingt erfüllen wollte: Teilnahme am Antikriegskongreß in
Melbourne, Information über die Verbrechen der braunen Diktatur in
Deutschland.
An Kischs Geist und Haltung wird man erinnert beim Blättern und
Lesen in den beiden Geburtstagsheften aus dem Frühjahr 1945. Welch
klangvolle Namen haben sich da in die Schar der Gratulanten
eingereiht, wohlgemerkt, in jenen Tagen am Ende des verheerenden
Krieges, da die weltweite Kommunikation nicht im mindesten so
einfach gewesen ist wie heutigentags: Anna Seghers, Alfred Döblin,
Bruno Frei, Heinrich Mann, Upton Sinclair, Agnes Smedley, Kurt
Stern, F. C. Weiskopf, Johannes R. Becher, Theodor Plivier,
Friedrich Wolf, Balder Olden, Vladimir Pozner, Ludwig Renn... Auch
Walter Janka ist dabei und Lenka Reinerová, damals noch blutjung,
heute Grande Dame der deutschsprachigen Literatur in Prag und
vermutlich einzige Überlebende aus der damaligen Emigrantenkolonie.
Wie Janka war sie Sekretär des Komitees der Schriftsteller in Mexico
D.C., das eigens für die Aktivitäten zu Ehren von Kisch gebildet
worden war.
»Da Du nun schon sechzig Jahre alt bist und weit, weit weg von mir
lebst und da ich als stiller Leser Deiner aufregend sinnvollen
Bücher stets feststellen konnte, wieviel andere Leute von Dir
gelernt haben, kann ich – die Regel durchbrechend – nur sagen: Marx
sei Dank, dass wir Dich haben!« So beglückwünschte den Jubilar Oskar
Maria Graf. »Als ich meine Berliner Bibliothek verloren hatte und
daran ging, mir in meinem provisorischen Wohnsitz in Frankreich eine
Bibliothek einzurichten, waren die Bücher von Kisch unter den
ersten, die ich suchte«, beginnt Lion Feuchtwanger seine Hommage für
das »Mexikanische« Jubiläumsheft. »Als ich dann meine Bibliothek in
Frankreich verloren hatte und daran ging, mir in meinem
provisorischen Wohnsitz in Amerika eine Bibliothek einzurichten,
waren die Bücher von Kisch die ersten, die ich suchte. Jetzt habe
ich die alten und vertrauten Bände wieder zusammen, ja sie haben
sich vermehrt«, fährt er fort. Und der Schlußsatz lautet: »Der
Schriftsteller Egon Erwin Kisch, diese einmalige Erscheinung, ist
ein Faktum, das aus der literarischen und politischen Geschichte
unserer Zeit nicht weggedacht werden kann.«
Das Londoner Geburtstagsheft, das auch einige Arbeiten aus Kischs
Feder enthält, wird von Fritz Bruegel mit einer umfassenden
Würdigung des kischichen Werkes – »Der Chronist unserer Zeit« –
eingeleitet. In diesen Tagen, da der vom Nazismus entfesselte Krieg
sein Ende gefunden habe, so heißt es da, stünden »alle Menschen, die
der Fortdauer der europäischen Kultur überhaupt eine Bedeutung
beimessen,« vor der Verpflichtung, eine Bilanz zu ziehen, wobei
insbesondere die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren eine
besondere Pflicht hätten, nämlich: »sie dürfen nicht übersehen wie
weit die deutsche Literatur Teil hat am nazistischen Verbrechen, wie
weit sie ihm Widerstand geleistet und wie weit sie es bekämpft hat.«
Kisch habe, so das Resumé, auf der richtigen Seite gestanden im
Kampf gegen den Faschismus und für die Befreiung Deutschlands vom
Hitler-Faschismus. »Deshalb darf Kisch an seinem sechzigsten
Geburtstag gesagt werden, dass, so viel er uns in der Zeit zwischen
den beiden Weltkriegen gegeben...All sein Werk aber gehört zum
Kulturerbe, das hinübergetragen werden soll in eine Welt, die vom
Faschismus gereinigt ist.«
Dieser Maßstab, diese besondere Pflicht für deutsche Autorinnen und
Autoren dürfte – natürlich in einem übertragenen und erweiterten
Sinne – auch zum 120. Geburtstag gelten, heutzutage, wenn es,
sechzig Jahre danach, um die Bewertung des Krieges und seine Opfer
geht, um die Befreiungstat der Alliierten. In diesem Sinne wäre von
Kisch – auch bei der Vergabe des nach ihm benannten
Journalistenpreises – noch immer zu lernen.
Veröffentlicht in: Ossietzky, 30. April 2005, Heft 9
Montmartre im Goldenen Prag
Historisches Nachtcafé in der Altstadt/Kisch tanzte Slapak mit der
Revoluce/ Hasek erzählte für ein Bier Anekdoten
Wenn von Montmartre die Rede ist, dann fliegen die Gedanken
gewöhnlich nach Paris. Es ist jedoch die falsche Richtung in diesem
Fall. Prag ist das Ziel, das Goldene Prag, das besonders im Mai
seinem Ruf Ehre macht, wenn die Türme und Türmchen, die Kuppeln und
Dächer in der Sonne glänzen. Es ist dies die Zeit, da auch das
geflügelte Wort, wonach in jedem Tschechen Musik stecke,
unüberhörbar bestätigt wird. Der Prager Frühling hat wieder Einzug
gehalten, in diesem Jahr zum 60. Male. Wie stets, ist dieses
Musikfestival am 12. des Monats eröffnet worden, dem Todestag von
Bedrich Smetana (1924-1884). Traditionsgemäß mit »Mein Vaterland«.
Das Londoner Symphonie Orchester unter Sir Colin Davis hat die
sechsteilige sinfonische Dichtung zu Gehör gebracht, und zwar in dem
wunderbaren Jugendstil-Musiksaal des Repräsentationshauses gleich
neben dem Pulverturm.
Die Londoner waren die glanzvolle Ausnahme. Das übrige reichhaltige
Programm bis zum offiziellen Musikfrühlingsende Anfang Juni wurde
weitgehend von tschechischen Musikern bestritten. Darüber hinaus
musizieren außerhalb des offiziellen Programms viele Klangkörper und
Solisten, die während des ganzen Jahres zu hören sind: das Prager
Kammerorchester, das Prager Kammerensemble, das Mozart Orchester
Prag, das Kammerensemble »Praga Collegio«, das Academia Wind
Ensemble Prague, das Kammerensemble Musica Pragensis...
Die Konzertstätten befinden sich vornehmlich in der zauberhaften
Altstadt: Spiegelsaal im Klementinum, Marmorsaal im Clam-Gallas
Palast, die Kirchen von St. Niklas, von St. Martin oder des Franz
von Assisi. In Prag wird das musikalische Leben selbst auf Straßen
und Plätzen nicht von Musikanten aus anderen Ländern dominiert wird,
jenen aus der ehemaligen Sowjetunion, dem einstigen Jugoslawien oder
aus rumänischen Landstrichen, wie das in deutschen und vielen
anderen europäischen Städten der Fall ist. Nein, hier geben
einheimische Musiker den Ton an. Und wie. Hinterm Pulverturm spielen
sie Prager Melodien aus Kafkas Zeiten, auf dem Altstädter Ring hält
eine Dixielandtruppe reifer Herren die Touristen mit hinreißenden
bühnen- und fernsehreifen Soli in Atem, auf der Karlsbrücke singt
eine blinde Sängerin »Reich mir die Hand, mein Leben « aus Mozarts
»Don Giovanni«, einst hier in Prag uraufgeführt.
Aber jetzt ins Montmartre. Noch beim letzten Prag-Besuch waren die
Läden dicht und nun welch eine Überraschung: Dieses einzigartige
Prager Café aus längst vergangenen Zeiten, es ist wieder geöffnet.
Hier war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die Prager Boheme
beheimatet, als schillerndste Erscheinungen die beiden Freunde
Jaroslav Hasek und Egon Erwin Kisch. Andere der literarischen
Zeitgenossen trafen sich in einem helleren Viertel. Kisch aber,
schrieb Willy Haas, der Mann der Literarischen Welt später, der den
Titel für seine renommierte Literaturzeitschrift honorarfrei von
Kisch erhalten hatte, Kisch »fühlte sich mehr zu den hübschen und
humorvollen böhmischen Mädchen des Nachtlokals Montmartre hingezogen
als zu unserem Literaturcafé Arco.« Kisch habe nicht nur tschechisch
gesprochen wie seine Arco-Kollegen, sondern das ganz urwüchsige
Cockney-Tschechisch der Vororte. »Er war ungemein wissensdurstig und
gelehrt – das war ja selbstverständlich für einen Redakteur der
Bohemia, einen Schüler Paul Wieglers.«
Die Redaktion der Bohemia befand sich nur ein paar Minuten Fußweg
von der Retezová entfernt, wie sie auch nur ein wenig abseits liegt
von der Karlova ulice, jenem Abschnitt des mittelalterlichen
Königsweges, der vom Pulverturm durch die Altstadt über die
Karlsbrücke hinauf auf den Hradschin führt. Ins Montmartre zog es
ihn, wenn er die Bohemia nach getaner Redaktionsarbeit verlassen
hatte. Hier gab es Unterhaltung, Kabarett, Musik. Hier wurden
Anekdoten geboren und erzählt – Hasek tat es für ein Glas Bier. Hier
wurde durch die Nacht getanzt.
Kisch, der ungekrönte König des Etablissements, hat hier den Tango
nach Prag gebracht und natürlich den Slapak und andere Prager
Modetänze jener Zeit aufs Parkett gelegt. Mit Ema Cacká, genannt
Revoluce, der Schönsten unter den Schönen, Chansonette und Tänzerin,
gab er das bewunderte Traumpaar ab – »und ganz Prag beneidete mich
um sie«, schwärmte er noch im letzten Interview kurz vor dem Tode.
In der Tat: Egonek und Revoluce, das war ein Geheimtip für
Provinzler, die in jener Zeit das Prager Nachtleben kennen lernen
wollten. Nur um sie zu sehen, suchte man das Montmartre auf.
Die Räumlichkeiten, Wände, Decken, Türen, befinden sich in den
Grundmaßen noch immer im gleichen Zustand wie im Jahre 1911, als der
damalige Besitzer Josef Waltner, von seinen Gästen geschätzt und
geliebt als Gastgeber, Tanzmeister und Conferencier, das Nachtcafé
eröffnet hatte. Die berühmte kubistische Malerei an der Tonnendecke
des Saales konnte in schwachen Konturen freigelegt werden. Altes,
damaliger Zeit entsprechendes Mobiliar wurde herbeigeschafft. Als
Spezialität des Hauses wird Freitags kein Schweinekopf serviert wie
bei Waltner, dafür täglich Krautsuppe und Linsensuppe mit Wurst
sowie Palatschinken mit Honig, Nüssen und Schlagsahne. Kein
Kabarett. Keine Mädchen. Kein Tanz. So ist nicht viel geblieben.
Außer der Vorstellung an das, was hier einst los gewesen ist, die
Erinnerung an den Geist jener, die einst die Räume belebt haben.
Porträts an den Wänden helfen dem Besucher: Max Brod, Autor von
»Tycho Brahes Weg zu Gott« und anderer historischer Romane, noch
immer berühmt für den Dienst an seinem Freunde Kafka und an der
Weltliteratur, indem er dessen Werk nicht den Flammen, sondern der
Öffentlichkeit übergab; Hubert Meyrink, der die legendäre Schöpfung
des Prager Rabbi Löw, den »Golem«, in einem Roman verewigte; der
Weltfreund Franz Werfel, wie er seinen ersten Gedichtband nannte,
und der dann Jahrzehnte später im Roman Barbara oder Die Frömmigkeit
seinen Freund Egonek verewigte als Kommandeur der Wiener Roten Garde
im November nach dem ersten großem Weltgemetzel; Emil Artur Longen,
das Theatergenie, der nach dem Ersten Weltkrieg in Prag die
Revolutionäre Bühne gegründet und Kischs Theaterstücke inszeniert
hatte, die anschließend in Wien und Berlin Furore machten; Vlasta
Burian, der Publikumsliebling jener Zeit, der in Kischs Dramen
Hauptrollen spielte; und natürlich Jaroslav Hasek, der später dem
Braven Soldaten Schwejk zum Weltruhm verhalf; und eben Egonek, der
Rasende Reporter (1885-1948).
Veröffentlicht in: Neues Deutschland, 18./19. Juni 2005
Preis-Probleme
Mit Preisen scheint es hierzulande zunehmend Probleme zu geben. Da
wird mir-nichts-dir-nichts eine unabhängige Jury düpiert und dem
Schriftsteller Peter Handtke der ihm zuerkannte Heinrich-Heine-Preis
von düsseldorfer Stadt-Oberen streitig gemacht. Und nun ist es auch
dem Journalisten und Schriftsteller Egon Erwin Kisch an den Kragen
gegangen. Während bei Handke jedoch noch eine Begründung für die Tat
geliefert wurde, ist der «Rasende Reporter” in Hamburg gewissermaßen
auf schleichendem Wege abgewickelt worden. Dort war von Henri Nannen
(Stern/Verlag Gruner + Jahr) im Jahre 1978 der
Egon-Erwin-Kisch-Preis für herausragende journalistische Leistungen
gestiftet worden, alljährlich in mehreren Kategorien verliehen, und
nun wird im Spiegel, so als wäre nichts geschehen, von den
«diesjährigen Gewinnern des Henri-Nannen-Preises” geschrieben -
obwohl der Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «für die beste
Reportage« weiterhin nach Kisch benannt wird. Was ist los? In einem
Lande mit Medien, die mit jeder noch so lächerlichen Personalie
häufig Zeilenschinderei betreiben, plötzlich aus Hamburg kein Wort
über diesen Sprung von Kisch zu Nannen. An aktuellem Anlaß, wie im
Falle Handke, kann es ja nicht liegen. Der Kommunist Kisch (1895 -
1948) war, als der Preis gestiftet wurde, schon dreißig Jahre tot -
seine Haltung und seine Werke aber weithin bekannt: Er gehört
bekanntlich zu den besten deutsch schreibenden Federn des
vergangenen Jahrhunderts, die Reportage hat er zu einer
literarischen Gattung gemacht, er wurde geschätzt und geachtet von
vielen berühmten Kollegen seiner Zeit. Was hat sich da verändert in
den heutigen Ansichten, dass der Name Kisch zurück gedrängt wird.
Der in Potsdam angesiedelten, aus schweizer Verlagshause stammenden
Zeitschrift «Cicero” verdanken wir Hintergründe für die
vordergründige Preis-Änderung: «Der rasend-rote Reporter”, so der
Autor Klaus Harprecht, hätte niemals Namenspatron für den begehrten
Journalistenpreis sein dürfen. Der denunziatorische Artikel,
angefüllt mit Verdächtigungen, Kisch ins Abseits zu drängen, steht
unter der Kennwort «Berliner Republik”. Ist das der wahre Grund, die
«Berliner Republik”: Fröhlich Fahnen schwenkender Patriosmus auf der
Straße für die Welt - und im Hintergrund Abwicklung großer Geister,
weil sie links standen?
Veröffentlicht in: Ossietzky, 22. Juli 2006, Heft 15
Kisch in Berlin
Just vor 60 Jahren schreibt Hans Leonard in seiner Eigenschaft als
Chef der »Weltbühne«, damals in der berliner Taubenstraße 37
ansässig, mit Datum vom 2.11.1946 einen Brief nach Prag an Herrn
Egon Erwin Kisch im Hotel »Alcron«. Leonard bestätigt, daß er den
Artikel »Grabschrift für Käthe Kollwitz« erhalten und in Heft Nr. 7
abgedruckt habe. Nach Klärung der Honorarfrage und der Mitteilung,
daß die Zusendung von Belegexemplaren bedauerlicherweise vorläufig
nicht statthaft sei, teilt er Kisch mit: »Das Wiedererscheinen Ihres
Namens in der deutschen Presse und auch in der ‚Weltbühne‘ hat
großes Aufsehen erregt und entsprechenden Beifall ausgelöst. Könnten
Sie uns gelegentlich, trotz aller Arbeitsüberlastung, einige Worte
zukommen lassen?«
Auch in diesem November, 60 Jahre danach, sorgt das Wiedererscheinen
von Kischs Namen noch immer für Aufsehen. »Kisch in Berlin« – so
lautet der Titel eines Kolloquiums, das von Rosa-Luxemburg-Stiftung
und Helle Panke e. V. in der Hauptstadt veranstaltet wird. Anlaß:
Vor 85 Jahren, im November 1921, ist Kisch von Prag nach Berlin
übergesiedelt. Er kennt da die Stadt schon. Bereits zweimal ist er
hier gewesen. Zwischen November 1905 und März 1906 hat er das
Wintersemester der Wrede’schen Journalisten-Hochschule in Berlin W
35, Steglitzer Straße 84 belegt. Auch mit den Berlinern beiderlei
Geschlecht hat er Bekanntschaft gemacht. In seinem ersten Brief an
den älteren Bruder Paul, auch Journalist, schreibt er am 11.
November 1905: »Trotz der Annehmlichkeit, welche das ungestörte,
selbständige Leben bietet, wäre ich lieber in Prag. Der Berliner ist
im allgemeinen ein Ekel, im besonderen zwei Ekel, die Berlinerin ein
ganzes Konglomerat von Ekeln.« 1913/14 ist er dann, nun schon
beruflich erstklassig engagiert, wiederum in der Stadt. Abrupt wird
dieser Aufenthalt beendet. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen.
Das liegt nun im Herbst 1921 – Anlaß für das aktuelle Kolloquium –
alles schon weit zurück. Kisch hat sich längst einen Namen gemacht.
In Prag und auch in Wien. Dort an der Donau, im November 1918
zeitweilig Kommandeur der revolutionären Roten Garde, mangelt es
dank Freund und Feind nicht an öffentlicher Aufmerksamkeit. Nun ist
er nach Berlin gekommen. Hier in der Metropole seiner Muttersprache,
einem Brennpunkt pulsierenden Lebens, will er Fuß fassen. Es gelingt
ihm mit Bravour. Bereits nach drei Jahren ist er – so die »Berliner
Volkszeitung« – der »König der Journalisten«. Ende 1924 ist sein
neuestes Buch erschienen: »Der rasende Reporter«. Mit dieser
Sammlung exzellenter Reportagen gelingt ihm der Durchbruch auf dem
deutschen Büchermarkt. Dieser Kisch – so Erich Kästner im »Leipziger
Tageblatt« – ist »‘rasender Reporter‘ und Zeitspiegel«.
Nun, im November 2006, kommt Kisch – »Rasender Reporter und
Zeitspiegel« – auf besondere Weise zu Wort. Aus aktueller Sicht
stehen seine Position zu zeitgenössischen Fragen auf der
Tagesordnung, seine Arbeitsweise sowie Probleme der Pressefreiheit.
»Es ist auch eine Reaktion auf den Versuch, Kischs Wirken und seinen
journalistischen Rang abzuwerten«, heißt es auf der
Kolloquiums-Einladung. Unterschiedliche Gesichtspunkte seines
Wirkens und Werkes werden behandelt: Gründe für die Platzwahl von
Berlin, in jener Zeit auch hinsichtlich Kunst, Literatur und
Lebensstil »eine freizügige, avantgardistische Metropole, die der
Selbstverwirklichung des Individuums neue Spielräume eröffnete«
sowie Beispiele für heutige Versuche zur »Evaluierung« von Kisch
nennt Dr. Harald Wessel. Über die Annäherung an Kisch in der
Studentenzeit und die Nutzung von Kenntnissen und Erkenntnissen des
»rasenden Reporters« in der praktischen journalistischen Arbeit
inclusive Schwierigkeiten mit der Zensur spricht Landolf Scherzer.
Gegenwärtige Aspekte der australischen Gewerkschaften mit Blick auf
deren Hilfe für Kisch nach der »Landung in Australien« behandelt
Klaus-Detlef Haas. Prof. Dr. Dieter Schlenstedt beschäftigt sich
kritisch mit zwei Reportagen aus dem Band »Der rasende Reporter«, in
denen Fakten und Vorgänge unterschiedlich behandelt worden sind im
Vergleich zu früherer bzw. späterer Veröffentlichung in
Tageszeitungen. Stimmungsvolles Zeitzeugen-Kolorit bringt in den
voll besetzten Saal Lucienne Steinitz: Die Tochter von Jeanne und
Kurt Stern, 1942 mit den Eltern nach Mexico emigriert, erzählt, wie
beliebt Kisch bei den Kindern gewesen ist, der ihnen mit
unterhaltsamen Geschichten und seinen legendären
Zauberkunststückchen oftmals große Freude bereitet hat. Summa
summarum: Eine lobenswerte Kisch-Veranstaltung, von den Kennern und
Freunden quittiert mit dem »entsprechenden Beifall«.
In Berlin hat Kisch die produktivste Zeit seines Lebens verbracht.
Hier hat er seinen umsichtigen Verleger Erich Reiss. Von hier ist er
aufgebrochen zu den Reisen für die in sich geschlossenen
Reportagebände »Zaren, Popen, Bolschewiken,« »Asien gründlich
verändert«, »Paradies Amerika« und »China geheim«. In dieser Zeit
hat er das für Journalisten-Charaktere noch immer beispielhafte Werk
»Klassischer Journalismus« mit den Meisterwerken der Zeitung
geschaffen und die Reportage zu einem literarischen Genre gemacht.
In Berlin hat er das berühmte Epitheton erhalten, das bis auf den
heutigen Tag zu seinem Markenzeichen geworden ist: Rasender
Reporter. Hier in Berlin, im »Romanischen Café«, hat auch die
herzliche Freundschaft und lebenslange – für Kisch außerordentlicvh
wichtige – Zusammenarbeit mit der Pragerin Jarmila Haasová begonnen,
die bereits im Frühjahr 1921 nach Berlin gekommen war. Sie ist zur
kongenialen Übersetzerin aller seiner – generell deutsch verfaßten –
Werke ins Tschechische geworden. Bei Jarmila hält er sich auch auf
an jenem Abend als der Reichstag brennt. Sie versucht ihn zum
Bleiben zu überreden, sie ahnt das drohende Unheil. Kisch aber will
sie nicht unnütz in Gefahr bringen, geht in sein
Untermieter-Quartier in der Motzstraße – und wird am frühen Morgen
des 28. Februar 1933 verhaftet. Was folgt ist bekannt: Gefängnis und
bewachter Transport in die Tschechoslowakei, deren Staatsbürger er
ist. So ist Kisch zum zweiten Mal aus Berlin vertrieben worden:
Dieses Mal von den braunen Bücher- und Menschenverbrennern.
Veröffentlicht in : Ossietzky, 2. Dezember 2006, Heft 24
Kisch im Kadima
Im Restaurant »Kadima« in der Oranienburger Straße in Berlin, direkt
neben der Synagoge, werden Salons, Lesungen und Matines
veranstaltet, um an berühmte jüdische Persönlichkeiten zu erinnern,
die mit ihren Leistungen dazu beigetragen haben, dieses Land reicher
zu machen. Etwa dreißig Frauen und Männer haben hier auch einen
symbolischen Stammtisch – kleine, viereckige Caféhaustische, die
unter der Glasplatte mit schmuckvollen Collagen versehen sind:
Fotos, Dokumente, Texte befördern die Assoziationen der Gäste. Und
für jeden dieser Stammtische haben Prominente unserer Zeit die
Patenschaft übernommen. Ihre Aufgabe: Sie bestreiten im
»Kadima«-Salon – der in der Regel monatlich einmal stattfindet – ein
literarisches Programm über die ihnen anvertraute Prominenz
vergangener Zeit. Ideengeberin und umsichtige Organisatorin ist die
Pressechefin des Hauses Bärbel Petersen.
Die Plejade verdienstvoller Persönlichkeiten wurde angeführt von
Moses Mendelsohn (1729-1786). Dr. Hermann Simon, Direktor der
Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, hielt einen Vortrag
über den Schriftsteller und Philosophen der Aufklärung, dieser
personifizierten Vernunft und Toleranz. Aus den bewegenden
Zuchthausbriefen von Rosa Luxemburg (1871-1919) hat die Journalistin
Lea Rosh gelesen. Die SPD-Politikerin Heide Simonis präsentierte
anhand weitgehend unbekannter Briefe und Schriften den
Generaldirektor der AEG und zweitweiligen Außenminister der jungen
Weimarer Republik Walter Rathenau (1867-1922), der wegen seiner
progressiven Politik von der deutschen Reaktion genauso meuchlings
ermordet worden ist wie die Mitbegründerin der KPD. Kurt Gerron
(1897-1944), Kabarettist, Schauspieler und Regisseur, der
»Tiger«-Brown in der »Drei Groschen Oper«-Premiere 1928 im Theater
am Schiffbauer Damm, wurde von dem Schauspieler Kurt Thieme
vorgestellt. Zu den vorgetragenen biografischen Texten gehörten
Gerron-Schriftstücke aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, die
an die Nieren gingen. Und so haben im Laufe der vergangenen zwei
Jahre vor fasziniertem Publikum im »Kadima« die Bühne betreten:
Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Max Liebermann, Levi Strauß,
Elisabeth Bergner, Max Reinhardt, Rahel Varnhagen...
Und nun wird dort mit einer Matinee Egon Erwin Kisch (1885-1945)
geehrt, der am 31. März vor sechzig Jahren verstorben ist. Kisch,
der die Reportage zu einer literarischen Gattung gemacht und
journalistische Maßstäbe gesetzt hat, die noch heute Gültigkeit
haben, er war auch ein Mann des Caféhauses. Wo immer er sich
aufhielt, in Prag, Wien, Berlin, Paris, stets hatte er sein
Stammcafé. Caféhäuser sind sein zweites Zuhause gewesen. Als er im
Jahre 1914 nach Berlin gekommen war, um hier Fuß zu fassen – ein
Versuch, der durch den Krieg zunichte gemacht worden ist – da ist
noch das »Café des Westens« am Kurfürstendamm das Zentrum der
schreibenden Zunft gewesen. Leonhard Frank, Kischs guter Freund aus
diesen Tagen, erinnerte sich an diese Zeit: » Die Kampfgespräche
über Literatur begannen sofort. Sie dauerten jeden Tag bis fünf Uhr
früh. Und da wir spätestens bis vier Uhr nachmittags wieder im Café
sein mußten und, wie ich mich mit Bestimmtheit erinnere, doch auch
irgendwann geschlafen haben, frage ich mich heute vergebens, wann
wir eigentlich unsere Bücher schrieben.« Und sie haben, wie wir
wissen, Exzellenzen von Büchern geschrieben – um ein Modewort zu
benützen. Nach dem »Café des Westens« war es dann das legendäre
»Romanischen Café« gegenüber der Gedächtniskirche, wo sich
Journalisten, Schriftsteller sowie auch Protagonisten anderer
künstlerischer Genres trafen und diskutierten. Da hatte dann
selbstverständlich auch Kisch seinen Stammtisch, nachdem er im
November 1921 nach Berlin gekommen war, um hier seßhaft zu werden.
In Berlin verbrachte er ein gutes Jahrzehnt. Es war eine der
schaffensreichsten Perioden seines Journalistenlebens. Hier erschien
1924 auch das Buch, dessen Titel zu seinem unvergänglichen Synonym
geworden ist: Der rasende Reporter. Auch dieser Aufenthalt wurde
gewaltsam beendet. In der Nacht nach dem Reichstagsbrand wurde Kisch
verhaftet, in den Kasematten von Spandau eingesperrt und am 11. März
1933 in die Tschechoslowakei, deren Staatsbürger er war,
abgeschoben.
Am Sonntagvormittag, 30. März 2007, ist Kisch im »Kadima«
gegenwärtig: Aus Briefen und Reportagen liest die Schauspielerin
Ursula Temps. Und am Tag darauf wird in der Berliner Mediengalerie
im Haus der Buchdrucker (Dudenstraße 10) eine Kisch-Ausstellung
eröffnet. Kisch ist wieder in Berlin.
Veröffentlicht in: Ossietzky, Heft 5/ 2008
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