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VOR 70 JAHREN – LANDUNG IN AUSTRALIEN
Wie der Australier John Fisher den Rasenden Reporter Egon Erwin
Kisch kennen lernte und was sie mit der Pragerin Jarmila verbindet
Wo immer sich Egon Erwin Kisch aufhielt, und er bereiste alle fünf
Kontinente, stets schickte er ein Lebenszeichen an Jarmila, Briefe
oder zumindest eine Ansichtskarte. Gerade aus Australien zurück
gekehrt, schrieb er ihr aus dem Hotel de la Plage des Badeortes Les
Sablettes bei Toulon an der Còte d´Azur am 12. April 1935 nach
Paris:
»Aus Australien habe ich Dir öfter geschrieben, aber Du hast nichts
bekommen, auch Gisl hat meine wichtigsten Briefe nicht bekommen.
Einmal habe ich eine lustige Sache geschrieben, daß sie dort
bezweifelt haben, daß ich wirklich ein Schriftsteller bin, aber weil
irgendein Mensch aus der Provinz schrieb, daß er ein Referat über
mich (›Eintritt verboten‹) in ›Neues Tagebuch‹ gelesen hat, ließen
sich alle australischen Zeitungen den Wortlaut telegrafieren; aber
sie wußten nicht, was Heinz Raabe mit dem Ausdruck ›sein berühmtes
Epitheton‹, nämlich ›rasender Reporter‹, meinte... Am meisten haben
sie sich dort gewundert, daß mein Buch den prophetischen Titel
›Eintritt verboten‹ hat.
Na, ich werde Dir viel erzählen können.
Bis dahin küsse ich Dich, Jarmilatsch, und bin Dein Fünfzigjähriger
(im Abrahamsalter!) Egonek«
*
Nur wenige Zeilen, aber viele Fragen für den Uneingeweihten.
Versuchen wir, sie zu beantworten. Zunächst: Jarmila Haasová,
geborene Ambrozová (1896-1990). Sie stammte aus Prag. So wie Kisch
(1885-1948). Nur, sie war Tschechin, während Kisch einer deutschen
jüdischen Familie entstammte. Jarmila war Kischs große Liebe. Im
Frühjahr 1921 war sie nach Berlin gegangen. Sie beherrschte
vorzüglich die deutsche Sprache und wollte dort ihren Weg machen.
Auch Kisch, dem Prag für seine journalistischen Pläne zu klein
geworden war, ging in die deutsche Hauptstadt. Kurz nach seiner
Ankunft im Herbst desselben Jahres hatten sie sich – im legendären
»Romanischen Café« – kennen gelernt. Sie blieben, bis zu Kischs Tode
im Frühjahr 1948 in Prag, einander verbunden in herzlicher, inniger
Freundschaft.
Ihr vertrauensvolles Verhältnis hatte sich nicht geändert, als die
Würfel zugunsten von Gisl Lyner gefallen waren, Kischs langjähriger
Sekretärin und späterer Lebensgefährtin, die er im Jahre 1938 in
Versailles heiratete. Jarmila blieb stets seine Vertraute, seine
Mitarbeiterin, seine Übersetzerin. Sie übertrug auf kongeniale Weise
Kischs Arbeiten aus dem Deutschen ins Tschechische, sie war die von
ihm autorisierte Übersetzerin. Als sie später wieder in Prag wohnte
und als Journalistin arbeitete, vertrat sie dort Kischs Interessen
bei Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften, korrigierte seine Werke,
half bei der Auswahl für seine Sammelbände.
*
Kisch gehörte zu den imposantesten Persönlichkeiten der
deutschsprachigen journalistischen und literarischen Szene der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die Reportage, den
lebendigen Alltagsbericht für die Zeitung, hat er mit gründlicher
Recherche, scharfem Blick auf politische und soziale Zustände sowie
einer meisterlichen Feder zu einem brillianten literarischen Genre
erhoben. Der Begriff »Klassischer Journalismus« ist mit seinem Namen
verbunden.
Im Jahre 1925 erschien in Berlin sein erstes Buch mit Reportagen von
Schauplätzen in verschiedenen Ländern. Es war ein großer Wurf. Ihm
gelang damit der Durchbruch auf dem deutschen Buchmarkt. Der
Buchtitel wurde sehr bald zu seinem Beinamen – sein »berühmtes
Epitheton« – , gewissermaßen zu Kischs Markenzeichen«: »Der Rasende
Reporter«. Dieser Titel stammte von Kischs Freundin Jarmila. In den
folgenden Jahren erschienen weitere Reportagebände aus Kischs Feder,
darunter der erwähnte Titel »Eintritt verboten«, der in der von
deutschen Emigranten in Paris heraus gegebenen Wochenschrift »Das
Neue Tagebuch« rezensiert worden war.
*
In Les Sablettes bei Toulon feierte Kisch am 31. April 1935 seinen
50. Geburtstag. Auch Jarmila war dabei. Und bei dieser Gelegenheit
machte Kisch wahr, was er in seinem Brief angekündigt hatte: Er
hatte viel zu erzählen über seinen Aufenthalt auf dem Fünften
Kontinent. Am 13. Oktober 1934 war er an Bord des Linienschiffes
»Straithaird« in Marseille auf die Reise gegangen. Sein
französischer Berufskollege Henri Barbusse, zugleich Sekretär des
Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus, hatte ihn gebeten, als
Vertreter des Weltkomitees am australischen Antikriegskongreß Anfang
November in der Stadthalle von Melbourne teil zu nehmen.
Kisch war dafür nicht nur aufgrund seiner journalistischen und
schriftstellerischen Autorität prädestiniert. Er hatte auch eigene
Erfahrungen mit dem Terror des Hitlerstaates. Am frühen Morgen nach
dem Reichtagsbrand am 27. Februar 1933 war er von den Nazis in
seiner Wohnung in Berlin verhaftet worden. In den Kerkern der Nazis
hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie Nazigegner unterschiedlicher
politischer Haltung – Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale –
gefoltert und zusammen geschlagen worden waren. Viele erlitten den
Tod. Er hatte darüber in der Aufsehen erregenden Reportage »In den
Kasematten von Spandau« berichtet. Denn aufgrund einer Intervention
der Tschechoslowakei, deren Staatsbürger er war, mußte man ihn aus
dem Kerker entlassen. In Australien aber verweigerten ihm die
zuständigen Behörden, auf Wunsch des nazistischen Generalkonsulats,
den Landgang. Da geschah dann, was den Titel eines neuen, viel
beachteten – noch heute höchst interessanten – Buches ergab:
»Landung in Australien«.
Was sich an jenem 13. August 1934, 14:15 Uhr, im Hafen von Melbourne
zutrug, darüber wird in dem Buch ausführlich berichtet. Hier sei
jene Passage zitiert, in der die dritte Person unserer Geschichte
auf den Plan erscheint. Kisch, der in seinem Buch als »unser Mann«
auftritt, schreibt:
»Einem jungen Reporter, mit dem er über dessen politischen Zweifel
diskutiert hat, gibt er zum Abschied den Rat, nach Abstoßen des
Schiffes noch ein paar Minuten am Ufer zu bleiben. – »Das kann ich
nicht, ich komme ohnehin schon zu spät in die Redaktion.« –
»Riskieren Sie fünf Minuten.«
Einige Tage später bekommt unser Mann einen überschwenglichen
Dankbrief des jungen Reporters, er habe gewartet, ›hätte ich Ihren
Rat nicht befolgt, wäre ich mit Schimpf und Schande entlassen
worden, denn ich hätte alles versäumt, was sich ereignet hat.‹
Was hat sich denn ereignet?
Die ›Straithaird‹ stieß ab, ein Meter war schon zwischen
Schiffsrumpf und dem Uferrand, da sah die Menschenmenge auf dem Kai
mit Entsetzen, wie sich fünfeinhalb Meter hoch über ihr ein Mann auf
die Reling schwang; um Gottes willen, er wird sich doch nicht
herunterstürzen?«
In der Tat. Der Mann sprang – und brach sich das rechte Bein gleich
zwei Mal, Knöchel und Schienbein. Und der junge Reporter, der die
Nachricht des Tages hatte, die um die Welt ging, das war: John
Fisher (1910-1960), der Sohn des ehemaligen australischen
Premierministers Andrew Fisher, der zwischen 1908 und 1915 an der
Spitze von Labor-Regierungen stand.
Als Egon Erwin Kisch – nach Gefängnishaft, dramatischem Prozeß,
Freispruch, zahlreichen Treffen mit Prominenten, Pressegesprächen
und bejubelten Auftritten vor Antifaschisten und Kriegsgegnern sowie
ausgiebigen Recherchen für sein Australienbuch – am 11. März 1935
den fünften Kontinent mit der »Orford« wieder verließ, befand sich
auch John Fisher an Bord. Der junge Australier begab sich für die
sozialdemokratische Tageszeitung »The Labor Daily« auf den
Schauplatz Europa – und es begann eine Freundschaft zwischen dem
»Rasenden Reporter« und dem »jungen Reporter«.
*
Dem eingangs zitierten Kisch-Brief aus dem französischen Les
Sablettes war ein Extra-Schreiben von Gisl an ihre Freundin Jarmila
beigefügt, vornehmlich ein Stimmungsbericht. Egonek sei ziemlich
kaputt, heißt es, »vor allem ist das Bein noch gar nicht in
Ordnung«. Und dann erscheint im Briefwechsel zwischen Egonek/Gisl
und Jarmila zum ersten Mal John Fisher: »Außerdem hat Egonek noch
einen jungen australischen Journalisten mitgebracht, der jeden Tag
drei Artikel schreibt.«
In Les Sablettes bei Kisch lernte John Fischer auch Jarmila kennen –
und verliebte sich in sie. Sie war um fast fünfzehn Jahre älter als
er, aber eine außergewöhnlich attraktive Erscheinung, gebildet und
belesen, eine begehrte Frau mit großem Charme. »Zu den Berühmtheiten
in Deiner Verehrerschaft gehört jetzt auch John F.« schrieb Kisch
später einmal. Jarmila wurde auch zur Schaltstelle zwischen Kisch
und Fisher. Denn wo immer sich die Beiden künftig an verschiedenen
Orten des Weltgeschehens aufhielten, sie versuchten stets, in
Kontakt zu bleiben. Wenn es nicht im direkten Briefwechsel möglich
war – dann auf dem Weg über Jarmila.
Den ersten Auftrag erhielt sie schon sehr bald. Am 18. Juni 1935,
zurück gekehrt in seine Wohnung in Versailles, schrieb Kisch Jarmila
nach Paris. Es ging um den Ersten Internationalen
Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in der
Seinemetropole: »Sag John, daß die Delegationen länderweise bestimmt
werden, zum Beispiel stellte England auch die Schriftsteller aus
Canada zusammen, die zum Kongreß eingeladen wurden. Eintrittskarten
kosten 4 Franken pro Tagung, (30 Franken für den ganzen Kongreß) und
sollten fast vergriffen sein, aber es ist keine Frage, daß er herein
käme als Pressemann, nötigenfalls mit meiner Hilfe. Es wird ganz
hübsch sein, André Gide spricht, Barbusse, Malreaux, Feuchtwanger,
Heinrich Mann, Mike Gold, Forster, Huxley, Karin Michaelis, Brecht,
Seghers, Becher, Weinert, Karel Capek, Nezval, Kisch, so wie viele
andere.«
So ging es über die Jahre. Kisch mühte sich, wer »der richtige Mann
zu sein scheint«, der John bei seinem Start als Korrespondent in
Moskau hilfreich sein könnte. Er fragte Jarmila besorgt »Hast Du
Post von John? und ob er als »Korrespondent dort zufrieden« sei«.
Schließlich ging es auch um Kischs Australienbuch. John Fisher gab
sachliche Hinweise zu Fakten. »Wenn John eine Enzyclopaedia
Australia zufällig zu Hause hat, soll er nachschauen«, was dort über
Schieferöl stehe, bat er sie einmal. Dann teilte Gisl der Jarmila
aus Versailles mit: »John hat mir das erste Kapitel, das er
übersetzt hat, geschickt. Er schreibt auch sehr häufig, immer
dringend und Flugpost.« Während Kisch noch an der »Landung in
Australien« arbeitete, übersetzte John bereits die ersten Kapitel
der deutschen Fassung ins Englische und Jarmila besorgte das
zeitgleich ins Tschechische. Und immer wieder tauchte er auf in den
Briefen an Jarmila, mit Fragen und Tips für ihn: »dein John«.
*
Im Frühjahr 1938 befand sich John Fisher wieder in Australien. Er
war zurück vom Schauplatz Europa. Reicher an Erfahrungen, die er
gemacht hatte in Paris, Moskau, London, Berlin, Barcelona... Ende
Mai fragte er aus Sidney bei Jarmila an, ob sie ihm nicht regelmäßig
Material aus Prag über tschechoslowakische Standpunkte und Ansichten
gegen die deutschen Nazis und andere Faschisten zur Veröffentlichung
in der australischen Presse übersenden könne. Es war dies die Zeit,
da in Spanien der Freiheitskampf gegen Francos, Hitlers und
Mussolinis Truppen tobte und die Nazis in Berlin bereits den Plan
zum Überfall auf die Tschechoslowakei ausheckten.
Der Brief war an die Adresse von Kisch in Versailles gerichtet. John
Fisher war sich offenbar nicht sicher, wo sich Jarmila zu dieser
Zeit aufhielt. Sie war inzwischen in das heimatliche Prag zurück
gekehrt. Kisch seinerseits übermittelte den Brief an Jarmila mit
nützlichen Ratschlägen: Man solle Johns Wünsche unbedingt an die
Presseabteilung des Außenministeriums weiterleiten, vielleicht durch
einen seiner Freunde aus frühen Prager Journalistenzeiten. Das beste
wäre wohl, so Kisch, wenn man »The Labor Daily« ein Abonnement der
»Prager Presse«, einer regierungsamtlich halboffiziellen
deutschsprachigen Zeitung, senden könne.
Dann spitzte sich die politische Situation zu. Kisch mußte vor den
Nazis aus Paris fliehen. Via USA begab er sich nach Mexico. In Prag
fielen die deutschen Okkupanten ein. Der Briefwechsel
Kisch-Fisher-Jarmila ruhte. Erst im Juni 1945 waren die drei –
persönlich-postalisch – wieder vereint. John Fisher schrieb einen
Brief an Kisch nach Mexico. Er schrieb aus Prag – in Gesellschaft
von Jarmila und ihrem Mann Vincenz, einem bekannten tschechischen
Journalisten. John teilte mit, daß er kürzlich in Berlin gewesen
sei, als Kriegsberichterstatter mit den Truppen der britischen
Alliierten. Und daß er an Kisch gedacht habe, »when the boys
captured Spandau«, an die Zeit also, da Kisch in jener alten Festung
von den Nazis inhaftiert gewesen war.
Diesen Brief hatte John Fisher kurioserweise auf Briefpapier aus der
»Präsidialkanzlei des Führers und Reichskanzlers« geschrieben. Er
hatte es in »Hitlers own office in the Reichschancellery«
beschlagnahmt, gewissermaßen als persönliche Beute des Siegers im
Kampf gegen Krieg und Faschismus, der ihn rund ein Jahrzehnt zuvor
an die Seite von Egon Erwin Kisch geführt hatte – und an die Seite
von Jarmila.
Veröffentlicht in: »Cataloque 100 – Buchantiquariat am Rhein« zur
World-Antiquariats-messe in Melbourne im Oktober 2004
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