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Kisch – ein Jahrhundert-Journalist

Nichts als die Wahrheit

Kisch – Briefe an Jarmila

Vor 70 Jahren – Landung in Australien

Vorhang auf für Egon Erwin Kisch

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Artikel – Kommentare – Reportagen

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Kisch-Brief vom 12. April 1935 an Jarmila,
in dem es heißt: »Aus Australien habe ich Dir öfter geschrieben, aber Du hast nichts bekommen, auch Gisl hat meine wichtigsten Briefe nicht bekommen. Einmal habe ich eine lustige Sache geschrieben, daß sie dort bezweifelt haben, daß ich wirklich ein Schriftsteller bin, aber weil irgendein Mensch aus der Provinz schrieb, daß er ein Referat über mich (›Eintritt verboten‹) in ›Neues Tagebuch‹ gelesen hat, ließen sich alle australischen Zeitungen den Wortlaut telegrafieren; aber sie wußten nicht, was Heinz Raabe (Pseudonym des Journalisten und Literaturkritikers Ludwig Marcuse – K.H.) mit dem Ausdruck ›sein berühmtes Epitheton‹, nämlich ›rasender Reporter‹, meinte... Am meisten haben sie sich dort gewundert, das mein Buch den prophetischen Titel ‚Eintritt verboten‘ hat...«-
Der erwähnte Reportageband war 1934 bei Edition du Carrefour, Paris, erschienen.
Reproduktion: Klaus Haupt - Alle Rechte vorbehalten

 

 

VOR 70 JAHREN – LANDUNG IN AUSTRALIEN
Wie der Australier John Fisher den Rasenden Reporter Egon Erwin Kisch kennen lernte und was sie mit der Pragerin Jarmila verbindet

Wo immer sich Egon Erwin Kisch aufhielt, und er bereiste alle fünf Kontinente, stets schickte er ein Lebenszeichen an Jarmila, Briefe oder zumindest eine Ansichtskarte. Gerade aus Australien zurück gekehrt, schrieb er ihr aus dem Hotel de la Plage des Badeortes Les Sablettes bei Toulon an der Còte d´Azur am 12. April 1935 nach Paris:
»Aus Australien habe ich Dir öfter geschrieben, aber Du hast nichts bekommen, auch Gisl hat meine wichtigsten Briefe nicht bekommen. Einmal habe ich eine lustige Sache geschrieben, daß sie dort bezweifelt haben, daß ich wirklich ein Schriftsteller bin, aber weil irgendein Mensch aus der Provinz schrieb, daß er ein Referat über mich (›Eintritt verboten‹) in ›Neues Tagebuch‹ gelesen hat, ließen sich alle australischen Zeitungen den Wortlaut telegrafieren; aber sie wußten nicht, was Heinz Raabe mit dem Ausdruck ›sein berühmtes Epitheton‹, nämlich ›rasender Reporter‹, meinte... Am meisten haben sie sich dort gewundert, daß mein Buch den prophetischen Titel ›Eintritt verboten‹ hat.
Na, ich werde Dir viel erzählen können.
Bis dahin küsse ich Dich, Jarmilatsch, und bin Dein Fünfzigjähriger (im Abrahamsalter!) Egonek«

*

Nur wenige Zeilen, aber viele Fragen für den Uneingeweihten. Versuchen wir, sie zu beantworten. Zunächst: Jarmila Haasová, geborene Ambrozová (1896-1990). Sie stammte aus Prag. So wie Kisch (1885-1948). Nur, sie war Tschechin, während Kisch einer deutschen jüdischen Familie entstammte. Jarmila war Kischs große Liebe. Im Frühjahr 1921 war sie nach Berlin gegangen. Sie beherrschte vorzüglich die deutsche Sprache und wollte dort ihren Weg machen. Auch Kisch, dem Prag für seine journalistischen Pläne zu klein geworden war, ging in die deutsche Hauptstadt. Kurz nach seiner Ankunft im Herbst desselben Jahres hatten sie sich – im legendären »Romanischen Café« – kennen gelernt. Sie blieben, bis zu Kischs Tode im Frühjahr 1948 in Prag, einander verbunden in herzlicher, inniger Freundschaft.
Ihr vertrauensvolles Verhältnis hatte sich nicht geändert, als die Würfel zugunsten von Gisl Lyner gefallen waren, Kischs langjähriger Sekretärin und späterer Lebensgefährtin, die er im Jahre 1938 in Versailles heiratete. Jarmila blieb stets seine Vertraute, seine Mitarbeiterin, seine Übersetzerin. Sie übertrug auf kongeniale Weise Kischs Arbeiten aus dem Deutschen ins Tschechische, sie war die von ihm autorisierte Übersetzerin. Als sie später wieder in Prag wohnte und als Journalistin arbeitete, vertrat sie dort Kischs Interessen bei Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften, korrigierte seine Werke, half bei der Auswahl für seine Sammelbände.

*

Kisch gehörte zu den imposantesten Persönlichkeiten der deutschsprachigen journalistischen und literarischen Szene der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die Reportage, den lebendigen Alltagsbericht für die Zeitung, hat er mit gründlicher Recherche, scharfem Blick auf politische und soziale Zustände sowie einer meisterlichen Feder zu einem brillianten literarischen Genre erhoben. Der Begriff »Klassischer Journalismus« ist mit seinem Namen verbunden.
Im Jahre 1925 erschien in Berlin sein erstes Buch mit Reportagen von Schauplätzen in verschiedenen Ländern. Es war ein großer Wurf. Ihm gelang damit der Durchbruch auf dem deutschen Buchmarkt. Der Buchtitel wurde sehr bald zu seinem Beinamen – sein »berühmtes Epitheton« – , gewissermaßen zu Kischs Markenzeichen«: »Der Rasende Reporter«. Dieser Titel stammte von Kischs Freundin Jarmila. In den folgenden Jahren erschienen weitere Reportagebände aus Kischs Feder, darunter der erwähnte Titel »Eintritt verboten«, der in der von deutschen Emigranten in Paris heraus gegebenen Wochenschrift »Das Neue Tagebuch« rezensiert worden war.

*

In Les Sablettes bei Toulon feierte Kisch am 31. April 1935 seinen 50. Geburtstag. Auch Jarmila war dabei. Und bei dieser Gelegenheit machte Kisch wahr, was er in seinem Brief angekündigt hatte: Er hatte viel zu erzählen über seinen Aufenthalt auf dem Fünften Kontinent. Am 13. Oktober 1934 war er an Bord des Linienschiffes »Straithaird« in Marseille auf die Reise gegangen. Sein französischer Berufskollege Henri Barbusse, zugleich Sekretär des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus, hatte ihn gebeten, als Vertreter des Weltkomitees am australischen Antikriegskongreß Anfang November in der Stadthalle von Melbourne teil zu nehmen.
Kisch war dafür nicht nur aufgrund seiner journalistischen und schriftstellerischen Autorität prädestiniert. Er hatte auch eigene Erfahrungen mit dem Terror des Hitlerstaates. Am frühen Morgen nach dem Reichtagsbrand am 27. Februar 1933 war er von den Nazis in seiner Wohnung in Berlin verhaftet worden. In den Kerkern der Nazis hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie Nazigegner unterschiedlicher politischer Haltung – Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale – gefoltert und zusammen geschlagen worden waren. Viele erlitten den Tod. Er hatte darüber in der Aufsehen erregenden Reportage »In den Kasematten von Spandau« berichtet. Denn aufgrund einer Intervention der Tschechoslowakei, deren Staatsbürger er war, mußte man ihn aus dem Kerker entlassen. In Australien aber verweigerten ihm die zuständigen Behörden, auf Wunsch des nazistischen Generalkonsulats, den Landgang. Da geschah dann, was den Titel eines neuen, viel beachteten – noch heute höchst interessanten – Buches ergab: »Landung in Australien«.
Was sich an jenem 13. August 1934, 14:15 Uhr, im Hafen von Melbourne zutrug, darüber wird in dem Buch ausführlich berichtet. Hier sei jene Passage zitiert, in der die dritte Person unserer Geschichte auf den Plan erscheint. Kisch, der in seinem Buch als »unser Mann« auftritt, schreibt:
»Einem jungen Reporter, mit dem er über dessen politischen Zweifel diskutiert hat, gibt er zum Abschied den Rat, nach Abstoßen des Schiffes noch ein paar Minuten am Ufer zu bleiben. – »Das kann ich nicht, ich komme ohnehin schon zu spät in die Redaktion.« – »Riskieren Sie fünf Minuten.«
Einige Tage später bekommt unser Mann einen überschwenglichen Dankbrief des jungen Reporters, er habe gewartet, ›hätte ich Ihren Rat nicht befolgt, wäre ich mit Schimpf und Schande entlassen worden, denn ich hätte alles versäumt, was sich ereignet hat.‹
Was hat sich denn ereignet?
Die ›Straithaird‹ stieß ab, ein Meter war schon zwischen Schiffsrumpf und dem Uferrand, da sah die Menschenmenge auf dem Kai mit Entsetzen, wie sich fünfeinhalb Meter hoch über ihr ein Mann auf die Reling schwang; um Gottes willen, er wird sich doch nicht herunterstürzen?«
In der Tat. Der Mann sprang – und brach sich das rechte Bein gleich zwei Mal, Knöchel und Schienbein. Und der junge Reporter, der die Nachricht des Tages hatte, die um die Welt ging, das war: John Fisher (1910-1960), der Sohn des ehemaligen australischen Premierministers Andrew Fisher, der zwischen 1908 und 1915 an der Spitze von Labor-Regierungen stand.
Als Egon Erwin Kisch – nach Gefängnishaft, dramatischem Prozeß, Freispruch, zahlreichen Treffen mit Prominenten, Pressegesprächen und bejubelten Auftritten vor Antifaschisten und Kriegsgegnern sowie ausgiebigen Recherchen für sein Australienbuch – am 11. März 1935 den fünften Kontinent mit der »Orford« wieder verließ, befand sich auch John Fisher an Bord. Der junge Australier begab sich für die sozialdemokratische Tageszeitung »The Labor Daily« auf den Schauplatz Europa – und es begann eine Freundschaft zwischen dem »Rasenden Reporter« und dem »jungen Reporter«.

*

Dem eingangs zitierten Kisch-Brief aus dem französischen Les Sablettes war ein Extra-Schreiben von Gisl an ihre Freundin Jarmila beigefügt, vornehmlich ein Stimmungsbericht. Egonek sei ziemlich kaputt, heißt es, »vor allem ist das Bein noch gar nicht in Ordnung«. Und dann erscheint im Briefwechsel zwischen Egonek/Gisl und Jarmila zum ersten Mal John Fisher: »Außerdem hat Egonek noch einen jungen australischen Journalisten mitgebracht, der jeden Tag drei Artikel schreibt.«
In Les Sablettes bei Kisch lernte John Fischer auch Jarmila kennen – und verliebte sich in sie. Sie war um fast fünfzehn Jahre älter als er, aber eine außergewöhnlich attraktive Erscheinung, gebildet und belesen, eine begehrte Frau mit großem Charme. »Zu den Berühmtheiten in Deiner Verehrerschaft gehört jetzt auch John F.« schrieb Kisch später einmal. Jarmila wurde auch zur Schaltstelle zwischen Kisch und Fisher. Denn wo immer sich die Beiden künftig an verschiedenen Orten des Weltgeschehens aufhielten, sie versuchten stets, in Kontakt zu bleiben. Wenn es nicht im direkten Briefwechsel möglich war – dann auf dem Weg über Jarmila.
Den ersten Auftrag erhielt sie schon sehr bald. Am 18. Juni 1935, zurück gekehrt in seine Wohnung in Versailles, schrieb Kisch Jarmila nach Paris. Es ging um den Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in der Seinemetropole: »Sag John, daß die Delegationen länderweise bestimmt werden, zum Beispiel stellte England auch die Schriftsteller aus Canada zusammen, die zum Kongreß eingeladen wurden. Eintrittskarten kosten 4 Franken pro Tagung, (30 Franken für den ganzen Kongreß) und sollten fast vergriffen sein, aber es ist keine Frage, daß er herein käme als Pressemann, nötigenfalls mit meiner Hilfe. Es wird ganz hübsch sein, André Gide spricht, Barbusse, Malreaux, Feuchtwanger, Heinrich Mann, Mike Gold, Forster, Huxley, Karin Michaelis, Brecht, Seghers, Becher, Weinert, Karel Capek, Nezval, Kisch, so wie viele andere.«
So ging es über die Jahre. Kisch mühte sich, wer »der richtige Mann zu sein scheint«, der John bei seinem Start als Korrespondent in Moskau hilfreich sein könnte. Er fragte Jarmila besorgt »Hast Du Post von John? und ob er als »Korrespondent dort zufrieden« sei«. Schließlich ging es auch um Kischs Australienbuch. John Fisher gab sachliche Hinweise zu Fakten. »Wenn John eine Enzyclopaedia Australia zufällig zu Hause hat, soll er nachschauen«, was dort über Schieferöl stehe, bat er sie einmal. Dann teilte Gisl der Jarmila aus Versailles mit: »John hat mir das erste Kapitel, das er übersetzt hat, geschickt. Er schreibt auch sehr häufig, immer dringend und Flugpost.« Während Kisch noch an der »Landung in Australien« arbeitete, übersetzte John bereits die ersten Kapitel der deutschen Fassung ins Englische und Jarmila besorgte das zeitgleich ins Tschechische. Und immer wieder tauchte er auf in den Briefen an Jarmila, mit Fragen und Tips für ihn: »dein John«.

*

Im Frühjahr 1938 befand sich John Fisher wieder in Australien. Er war zurück vom Schauplatz Europa. Reicher an Erfahrungen, die er gemacht hatte in Paris, Moskau, London, Berlin, Barcelona... Ende Mai fragte er aus Sidney bei Jarmila an, ob sie ihm nicht regelmäßig Material aus Prag über tschechoslowakische Standpunkte und Ansichten gegen die deutschen Nazis und andere Faschisten zur Veröffentlichung in der australischen Presse übersenden könne. Es war dies die Zeit, da in Spanien der Freiheitskampf gegen Francos, Hitlers und Mussolinis Truppen tobte und die Nazis in Berlin bereits den Plan zum Überfall auf die Tschechoslowakei ausheckten.
Der Brief war an die Adresse von Kisch in Versailles gerichtet. John Fisher war sich offenbar nicht sicher, wo sich Jarmila zu dieser Zeit aufhielt. Sie war inzwischen in das heimatliche Prag zurück gekehrt. Kisch seinerseits übermittelte den Brief an Jarmila mit nützlichen Ratschlägen: Man solle Johns Wünsche unbedingt an die Presseabteilung des Außenministeriums weiterleiten, vielleicht durch einen seiner Freunde aus frühen Prager Journalistenzeiten. Das beste wäre wohl, so Kisch, wenn man »The Labor Daily« ein Abonnement der »Prager Presse«, einer regierungsamtlich halboffiziellen deutschsprachigen Zeitung, senden könne.
Dann spitzte sich die politische Situation zu. Kisch mußte vor den Nazis aus Paris fliehen. Via USA begab er sich nach Mexico. In Prag fielen die deutschen Okkupanten ein. Der Briefwechsel Kisch-Fisher-Jarmila ruhte. Erst im Juni 1945 waren die drei – persönlich-postalisch – wieder vereint. John Fisher schrieb einen Brief an Kisch nach Mexico. Er schrieb aus Prag – in Gesellschaft von Jarmila und ihrem Mann Vincenz, einem bekannten tschechischen Journalisten. John teilte mit, daß er kürzlich in Berlin gewesen sei, als Kriegsberichterstatter mit den Truppen der britischen Alliierten. Und daß er an Kisch gedacht habe, »when the boys captured Spandau«, an die Zeit also, da Kisch in jener alten Festung von den Nazis inhaftiert gewesen war.
Diesen Brief hatte John Fisher kurioserweise auf Briefpapier aus der »Präsidialkanzlei des Führers und Reichskanzlers« geschrieben. Er hatte es in »Hitlers own office in the Reichschancellery« beschlagnahmt, gewissermaßen als persönliche Beute des Siegers im Kampf gegen Krieg und Faschismus, der ihn rund ein Jahrzehnt zuvor an die Seite von Egon Erwin Kisch geführt hatte – und an die Seite von Jarmila.


Veröffentlicht in: »Cataloque 100 – Buchantiquariat am Rhein« zur World-Antiquariats-messe in Melbourne im Oktober 2004

 

 
 

 

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