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Aus
Anlass des 60. Todestages von Kisch (29. April 1885 - 31. März 1948)
hat an der Karls Universität Prag am 2. Oktober 2008 eine
Kisch-Konferenz stattgefunden. Die Konferenz wurde vom Primator von
Prag (Oberbürgermeister), MUDr. Pavel Bém, eröffnet. Mitorganisator
war der tschechische Klub von Autoren der Faktenliteratur.
Der Vorsitzende dieser Berufsvereinigung, der Historiker PhDr. Karel
Richter, hielt das Einleitungsreferat. Als einziger ausländischer
Redner war Klaus Haupt geladen, um über Kischs Jahre in Berlin 1921
bis 1933 zu referieren.
Kisch – ein
Jahrhundert-Journalist
Die Jahre in Berlin 1921 bis 1933 / Werk und Wirkung
Vortrag am 2. Oktober 2008 an der Karls-Universität, Prag
Als man Kisch hier in Prag vor 60 Jahren das letzte Geleit gab, da
geschah das unter großer Anteilnahme und mit großen Ehren. Nie
wieder ist ein Journalist und Schriftsteller so zu Grabe getragen
worden. Vom Pulverturm über den Graben, den Wenzelsplatz hinauf bis
zum Nationalmuseum säumten trauernde Menschen den Weg. Hinter der
Lafette mit dem Sarg schritt viel Prominenz. Der Primator war dabei,
Václav Vacek, ein Freund aus Kischs jungen Jahren. Auch Antonín
Zápotocký, der Sohn des Mitbegründers der tschechischen
Sozialdemokratie, Ladislav Zápotocký, ein Mann der Gewerk-
schaften, ein Schriftsteller, und nun stellvertretender
Ministerpräsident. Er hatte Kisch am Krankenbett versprechen müssen,
die Trauerrede zu halten.
Kisch ist ein Jahrhundert-Journalist. Wie kein anderer seiner
Kollegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die gleich ihm
eine deutsche Feder geführt haben, hat er Maßstäbe für die
journalistische Arbeit gesetzt, die noch heute Gültigkeit haben. Wie
kein anderer seiner Kollegen hat er nachhaltige Zeitzeugnisse von
allen Kontinenten geliefert und mit seinen Berichten wie auch als
Persönlichkeit seinen Berufsstand geprägt
Hier, in dieser Stadt, hatte er seine ersten journalistischen
Erfolge. Hier in Prag ist er durch die »Gassen und Nächte«
gestreift, hat er seine »Abenteuer« erlebt und die »Prager Kinder«
kennen gelernt – und mit diesen Titeln drei seiner ersten Bücher
versehen.
In dieser Stadt führte er auch das erste Interview mit einer
internationalen Persönlichkeit von Weltgeltung: Mit Thomas Alva
Edison – dem nordamerikanischen Erfinder, dem Mann mit der
Glühbirne, dem Grammophon und hundert weiteren gravierenden
technischen Neuheiten. Als Edison im September 1911 auf seiner
Europa-Reise im Hotel de Saxe eintraf, war Kisch bereits zur Stelle.
Und dem berühmten Amerikaner hat das Interview mit dem jungen
Reporter offenbar ausgezeichnet gefallen. Denn er schenkte ihm ein
silbernes Zigarettenetui mit eingravierter Widmung – das richtige
Geschenk für den »rauchenden Reporter« aus Leidenschaft.
Hier in Prag hat der junge Kisch auch das bis auf den heutigen Tag
immer wieder zitierte Musterbeispiel von Enthüllungsjournalismus
geliefert: Mit jener legendären Nachricht in der »Bohemia« vom 28.
Mai 1913. In Form eines Gerüchts und eines Quasi-Dementis hat Kisch
die Öffentlichkeit informiert, dass Oberst Alfred Redl,
Generalstabschef des 8. Prager Korps der k.u.k.
österreichisch-ungarischen Armee, in eine Spionageaffaire verwickelt
ist und sich deshalb in Wien erschossen habe.
Schon zu jener Zeit war Kisch eine außergewöhnliche Erscheinung, ein
Mann mit großartigen Fähigkeiten, mit besonderem Charisma und
Charme. Zu Weltgeltung aber ist er erst in Berlin gelangt. »König
der Journalisten« nannte man ihn dort. Und als »König der Reporter«
hat ihn dann später auch der einflußreiche nordamerikanische
Verleger Alfred A. Knopf in einer Werbeschrift für das geplante
autobiografische Buch »Crawling in the Inking River« angekündigt.
Ich bin ein Berliner und will deshalb über Kischs Aufenthalte in
meiner Heimatstadt sprechen. Über sein Wirken an der Spree. Über
sein Werk aus dieser Zeit, seine Aktivitäten, seinen Einfluß. Berlin
ist immerhin die Stadt, in der er die längste Zeit einen festen
Wohnsitz außerhalb von Prag gehabt hat.
Dreimal ist Kisch nach Berlin gegangen, um sich dort eine Basis für
seine journalistische Arbeit zu schaffen.
Das Erstemal hat er sich Ende 1905 nach Berlin begeben. Er hat das
Wintersemester der Journalistenschule von Richard Wrede belegt, das
vom September 1905 bis zum März 1906 dauerte . Der
Zeitungswissenschaftler und Publizist Richard Wrede und seine
Bildungsstätte für angehende Journalisten waren renommiert. Kisch
holte sich dort das erste Rüstzeug für seinen künftigen Beruf und
machte sich mit der Zeitungsarbeit vertraut: Lernte Nachrichten,
Depeschen, Korrespondenzen formulieren; übte sich im Redigieren;
befaßte sich mit verschiedenen journalistischen Genres, mit Roman-
und Theaterkritik, lieferte Stilproben und dergleichen. Das machte
er mit Erfolg, wie aus einem Brief nach Prag zu entnehmen ist. Mit
den Berlinern aber konnte sich der Zwanzigjährige damals noch gar
nicht anfreunden. Seinem älteren Bruder Paul schrieb er am 11.
November 1905:
»Berlin im allgemeinen ist direkt furchtbar. Trotz der
Annehmlichkeiten, welche das selbständige, ungestörte Leben bietet,
wäre ich lieber in Prag. Der Berliner ist im allgemeinen ein Ekel,
im besonderen zwei Ekel, die Berlinerin ein ganzes Konglomerat von
Ekeln.«
Das zweite Mal begab er sich im Sommer 1913 nach Berlin. Nun hatte
er bereits seine Erfahrungen und Erfolge. Prag war ihm wohl zu klein
geworden als Wirkungsstätte. In der deutschen Millionenmetropole
wollte er Fuß fassen. Er schrieb für das »Berliner Tageblatt« aus
dem Mosse Verlag, die einflußreiche liberale Tageszeitung der
Hauptstadt. Zugleich wurde er am »Deutschen Künstlertheater Sozietät«
als Dramaturg und – wie man heute sagen würde – als public relations
officer engagiert. In der Funktion als Dramaturg ist er, was er mit
besonderem Vergnügen nach Prag berichtete, als »unmittelbarer
Nachfolger Gerhard Hauptmanns« benannt worden – diesem leuchtenden
Stern am deutschen Theaterhimmel jener Zeit. Im Sommer 1914 wurde
seine Berliner Karriere allerdings jäh unterbrochen. Er mußte zurück
in die Heimat, um als Korporal im k.u.k. Infanterieregiment Nr. 11
an die Front nach Serbien zu gehen.
Zum dritten Mal trifft Kisch im November 1921 in Berlin ein. Und
dieser Aufenthalt mit festem Wohnsitz – wenngleich auch wechselnden
Wohnungen – wird rund ein Jahrzehnt dauern. Berlin – das ist
zugleich einer seiner produktivsten, erfolgreichsten
Lebensabschnitte. Hier befinden sich nun seine wichtigsten
beruflichen Wirkungsstätten, Redaktionen und Verlage. Hier plant er
Reportagereisen in die verschiedenen Länder Europas, in die
asiatischen Sowjetrepubliken und andere Teile der jungen
Sowjetunion, nach Nordafrika, ins »Paradies Amerika«, ins
geheimnisvolle China. Hier plant er den größten Teil seiner Bücher,
die bis zum Jahre 1933 in Berlin erscheinen.
Hier schreibt er Beiträge für namhafte Publikationen. Für die
liberale »Weltbühne« des späteren Nobelpreisträgers Carl von
Ossietzky; für die »Arbeiter-Illustrierte Zeitung« aus dem
Münzenberg-Konzern, die mit einer Auflage von 350 000 Exemplaren das
auflagenstärkste linksorientierte Periodikum der Weimarer Republik
darstellt; er schreibt für den »Berliner Börsen-Courier«, die »Rote
Fahne« und die »Welt am Abend«; für die »Berliner Morgenpost«, die »Vossische
Zeitung«, die »Frankfurter Zeitung«; die »BZ am Mittag« und »Zeit im
Bild«; für die Zeitschriften »Das Tagebuch«, »Neue Bücherschau« und
»Die literarische Welt«. Im bunten deutschen Blätterwald gibt es
viele, die Kisch als Autor schätzen.
Kisch ist noch kein Jahr in Berlin, da arbeitet er bereits an einem
Buch, das es in dieser Art in Deutschland noch nicht gibt. Seinem
Journalisten-Bruder Paul schreibt er am 28. Juli 1922:
»Ich bin augenblicklich im Auftrage eines Verlages mit der
Herausgabe eines Riesenwerkes des Titels ‚Klassischer Journalismus‘
beschäftigt, daß bloß verstorbene Autoren (seit Luther) umfaßt, bloß
markante Zeitungsartikel hervorragender Männer...«
Am Ende hat Kisch 100 Leitartikel, Gerichtsberichte, Feuilletons,
Theaterkritiken, Musik- und Kunstreferate, Literaturberichte,
Beiträge »In eigener Sache« sowie »Tagesnachrichten und Berichte
auswärtiger Korrespondenten« von 78 Autoren aus rund zwei
Jahrtausenden ausgewählt. Und er präsentiert uns großartige Namen:
Plininius den Jüngeren, Schiller, Heine, Dickens, Zola, Dostojewski
und Havlicek-Borowsky; Benjamin Franklin, Fürst Otto von Bismarck
und Napoleon Bonaparte; Marx, Massinini, Lasalle und Voltaire – eine
Plejade großer Geister. Den einzigen Vorwurf, den man Kisch machen
könnte ist der: Er – dem die Hebamme Frau Rosenthal prophezeit
hatte, er werde ein Herzganeff sein, ein Liebling der Frauen, denn
er hatte ein Grübchen am Nabel – dieser Egonek hat nicht eine
einzige Vertreterin des schönen Geschlechts in seine Sammlung
aufgenommen.
Jeden Beitrag hat Kisch mit einer kurzen Einleitung über Autor,
Thema, Zeit, Zusammenhänge und Hintergründe versehen. Es sind
kunstvolle, aussagestarke Miniaturen, ihrerseits kleine
Meisterwerke. Kisch ist 38 Jahre alt, als 1923 im Berliner Kämmerer
Verlag das Buch erscheint: Klassischer Journalismus – die
Meisterwerke der Zeitung. Im Vorwort fixiert er eine seiner
entscheidenden journalistischen - und menschlichen – Maximen, die
ihn durchs ganze Leben und sein gesamtes Werk begleiten wird:
»Zu lernen ist, daß der Geistigkeit nur durch die Geistigkeit zu
begegnen ist, durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine
Lüge, zu lernen ist, daß nicht die bessere Sache den irdischen Sieg
erficht, sondern die besser verfochtene Sache. Und daß es nichts
hilft, wenn man zu Lande unbesiegt ist und zu Wasser unbesiegt ist,
sondern daß man den Krieg der Menschheit nur verlieren kann, wenn
man im Geist besiegt wird.«
Auch wenn er später diese Aussage insofern modifizierte »daß die
bessere Sache« eben auch »die besser verfochtene Sache« sein müsse:
Das war eine klare Absage gegen räuberische Kriege, gegen Terror und
Terrorismus, gegen jegliche Gewalt, verlogene Manipulationen und
eine miserable Justiz. Der »Klassische Journalismus« – das ist ein
einzigartiges Lehrbuch. Es ist ein Standardwerk. Für Journalisten,
die einen engagierten Qualitätsjournalismus anstreben, hat es als
Lehrbuch seinen Wert bis auf den heutigen Tag. Kischs berühmter
Kollege Kurt Tucholsky urteilte unmittelbar nach Erscheinen des
Buches:
»Das ist eine Fundgrube... Kisch hat da etwas sehr gutes gemacht –
ich möchte es jedem Journalisten zu Weihnachten schenken.«
Im Jahr darauf – 1924 – erscheinen zwei weitere Werke, mit denen
Kisch von sich reden macht. Zunächst ist es im Verlag Die Schmiede
»Der Fall des Generalstabschefs Redl«. In der Reihe »Außenseiter der
Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart« gibt Kisch nunmehr eine
komplette Darstellung mit allen inzwischen verfügbaren und
recherchierten Fakten über Hintergründe, Zusammenhänge und Details
jenes Aufsehen erregenden Spionagefalles, der seinerzeit in Wien,
Moskau, Paris, Rom und anderen Hauptstädten Europas Nervosität
ausgelöst hatte.
Und gegen Ende des Jahres kommt dann im Erich Reiß Verlag jenes
große Buch heraus »mit den merkwürdigsten meiner Reportagen«, wie
Kisch nach Hause berichtet: »Der rasende Reporter«.
Mit diesem Buch hat sich Kisch endgültig in Berlin etabliert. Damit
ist der Durchbruch auf dem deutschen Büchermarkt eingeleitet. Bis
1933 wird das Buch 15 Auflagen erreichen. Alle Leser, Kritiker und
Kollegen sind des Lobes voll. Der Schriftsteller und
Literaturhistoriker Paul Wiegler – Kischs Förderer und Zimmerkollege
aus der Zeit bei der »Bohemia« in Prag, Autor der seinerzeit
maßgebenden »Geschichte der Weltliteratur« – würdigte den »Rasenden
Reporter« als das beste Buch des Jahres. Überdies habe es mit seinen
»gesammelten Energien« die Literatur gesprengt – freilich in den
damals gültigen Vorstellungen.
Tatsache ist – und dies ist ein weiteres bleibendes Verdienst
Kischs: Er hat die Reportage, ursprünglich eine nicht besonders
angesehene Gattung, zu einem literarischen Genre gemacht. Die
Reportage als Literatur – das ist sein Werk. Der in Deutschland
führende Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicky hat in einer Arbeit
über Kisch sinngemäß konstatiert:
Die von ihm für die Reportage entwickelten und angewandten
Prinzipien seien heute allgemeine Praxis – und kaum jemand würde sie
auf den »rasenden Reporter« zurückführen. Ein Autor, der mit seinem
Werk so das Schreiben der Reporter beeinflußt hat, so möchte ich
hinzufügen, kann erfolgreicher nicht sein.
Und Reich-Ranickys populärer Schriftsteller- und Kritikerkollege
Helmut Karasek stellte fest: Ohne Kisch gäbe es in der deutschen
Presse nicht die Seite Drei. Die »Seite Drei« – so auch benannt mit
der Seitenkustode – ist die Paradeseite mit den glanzvollen
Reportagen.
Was ist das Besondere am »Rasenden Reporter« mit seinen 53 Beiträgen
unterschiedlichster Thematik. Kisch charakterisiert es
folgendermaßen: Die Leser »sahen sich verblüfft einem Autor
gegenüber, der heute in Cuxhafen den Rekord-Personendampfer
‚Vaterland‘ zur Stapelfahrt besteigt und morgen ohne Übergang als
Hopfenpflücker ins böhmische Land zieht – auf Seite zwanzig nächtigt
er im Londoner Nachtasyl und auf Seite vierundzwanzig überfliegt er
mit einem Hydroplan Venedig – all das ohne Übergang, ohne
Verbindung, als spränge er, von Raum und Zeit, von Hindernissen und
Kosten unabhängig, just nach seiner Laune kreuz und quer.«
Aber Kisch hat dem Leser auch ehrlich gesagt, wie dieses Buch
zustande gekommen ist. Im Vorwort konstatiert er:
»Die nachstehenden Zeitaufnahmen sind nicht auf einmal gemacht
worden. Subjekt und Objekt waren in verschiedenen Lebensaltern und
in verschiedensten Stimmungen, als die Bilder entstanden, Stellung
und Licht waren höchst ungleich.«
Wie wir wissen, ist der Buchtitel »Der rasende Reporter« zum Synonym
für Kisch geworden – zu seinem Markenzeichen. Und verständlich ist,
daß sich Leser diesen Autor nun als eine Art »Hans Dampf in allen
Gassen« vorgestellt haben. Seine Freunde, alle ihm nahestehende
Personen, die seinen Arbeitsstil kannten, haben es klargestellt, daß
er keineswegs ein Schnellschreiber gewesen ist. Sondern dass er mit
Sorgfalt und Bedacht, mitunter auch sehr mühevoll die Feder geführt
hat, dass er oftmals tage-, ja, wochenlang nach dem rechten Wort,
dem einleuchtenden Bild gesucht hat, dass er an Formulierungen und
Sätzen feilte und feilte.
Kischs jüngerer Freund und Berufskollege Theodor Balk – übrigens der
Mann der in diesem Sommer verstorbenen Grand Dame der
deutschsprachigen Prager Literatur, Lenka Reinerová – hat es kurz
und knapp formuliert:
Kisch sei »als Reporter eher gründlich, enzyklopädisch, dialektich,
geistreich, witzig, kurz alles eher als rasend.«
Allerdings, das muß ich als Berliner hinzufügen: Rasend war damals
auch ein Modewort. Alles war rasend: Rasend aufregend, rasend
interessant, rasend spannend, man war rasend neugierig, in rasender
Hast oder rasender Eile – und was immer alles rasend sein konnte.
Den »Rasenden Reporter« hat Kisch dann um weitere »Reporterbände«
ergänzt – im gleichen Stil, nach ähnlichen Prinzipien, aber mit
Blick auf soziale Thematik und soziales Engagement weiter
entwickelten Auffassungen über Wesen und Aufgabe der Reportage. Auch
diese Bände erschienen - in gleicher Aufmachung - zuerst im Erich
Reiß Verlag Berlin: »Hetzjagd durch die Zeit« und »Wagnisse in aller
Welt«.
Jahr für Jahr wurden weitere Bücher mit unterschiedlichster Thematik
verlegt: »Soldat im Prager Korps«, später erschienen unter dem Titel
»Schreib das auf, Kisch« – »Die gestohlene Stadt« – »Zaren, Popen,
Bolschewiken« – »Kriminalistisches Reisebuch« – »Paradies Amerika« –
»Die Reise um Europa in 365 Tagen« (zusammen mit seinem Freund
Jaroslav Hasek) – »Prager Pitaval« – »Sieben Jahre Justizskandal Max
Hoelz« – »Asien gründlich verändert« – »Cina geheim«. Wie gesagt:
Berlin war eine der produktivsten und erfolgreichsten
Schaffensperioden im Leben von Kisch.
Wenn vom Geheimnis seiner Arbeit als Reporter die Rede ist, dann muß
man berücksichtigen, dass sich Kisch schon seit dem Jahre 1918 mit
theoretischen und praktischen Fragen der Literatur und des
Journalismus befaßt hat. Schon damals hat er gewissermaßen eine
»kleine Theorie der Reportage« entwickelt. Und über die Jahrzehnte
hinweg hat er sich immer wieder theoretischen Fragen der Reportage
zugewandt. Auch während seiner Berliner Zeit. Zwar gibt es aus der
Feder des »Rasenden Reporters« keine in sich geschlossene »Theorie
der Reportage«, aber wenn man sucht und alles zusammenträgt, was
Kisch im Laufe seines Lebens zu diesem Thema gesagt hat, dann kann
man getrost feststellen:
Wer ein guter Reporter werden will, der findet bei Kisch den roten
Faden, der findet Ratschläge, Prinzipien und Tips an die er sich
besten halten kann. Es würde zu weit führen, hier ausführlich auf
die Kischischischen Elemente der Reportagetheorie einzugehen. Aber
einige der wichtigsten Aspekte – die zugleich für Kischs in Prag
geformten Charakter sprechen – möchte ich dennoch erwähnen.
Das wäre zunächst einmal sein unerschütterliches Verhältnis zur
Wahrheit. Zur – wie er es einmal sagte – »dokumentarischen
Wahrheit«. Was bedeutet, dass der Reporter die Aufgabe hat, die
Hintergründe, die Zusammenhänge hinter dem Augenschein, hinter dem,
was er gesehen hat, zu erhellen. Um diese Aufgabe zu erfüllen,
benötigt der Reporter eine Fähigkeit, die Kisch als »logische
Phantasie« bezeichnet hat. Fragen wir ihn, was das für den Reporter
bedeutet:
»Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, es bedarf
aber auch eines Fernrohrs: der ‚logischen Phantasie‘. Denn niemals
bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes, aus
den aufgeschnappten Äußerungen der Beteiligten und Zeugen und aus
den ihm dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage.
Er muß die Problematik des Vorfalles, die Übergänge zu den
Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten,
daß die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten
Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal ist
nun, daß diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit
der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses
zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer
Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der
Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich der Reporter von jedem
anderen seiner Gattung, hier zeigt sich der Grad seiner Begabung.«
Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Kischs Reportagetheorie besteht
in der sozialen Aufgabe, im sozialen Engagement, in der Wahrheit
»sozialer Erkenntnis«. Bereits in seinen frühen Streifzügen als
Lokalreporter für die »Bohemia« hat das für ihn eine wesentliche
Rolle gespielt. Nachzulesen in seinen Büchern mit den Skizzen aus
dieser Zeit »Abenteuer in Prag« und »Aus Prager Gassen und Nächten«.
Da schreibt er über »Herabgekommene und solche..., in deren
Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bekannt ist, daß
es irgendwo Wohlstand gebe.«
Der sozialdemokratische Kulturredakteur Antonín Macek – der als
erster Kischs Werke für eine Buchausgabe ins Tschechische übertragen
hat – bescheinigte Kisch schon frühzeitig »das tiefe Erkennen der
Wurzeln der menschlichen Not«, worin er Kischs »Sozialironie«
begündet sah. Macek verglich Kischs Arbeiten aus jener Zeit mit den
Zeitungs-Skizzen des Engländers Boz, dem Pseudonym des jungen
Charles Dickens.
Was die Wurzeln der Reportage mit sozialem Engagement betrifft, so
gibt es auch da eine interessante Aussage des »Rasenden Reporters«.
Zitat:
»Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, an Plinius den
Jüngeren, der dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht
über das Erdbeben von Pompeji lieferte, an Helfrich Sturz, den
Freund Lessings, an Georg Forster, den wegen seiner Zuneigung zur
Französischen Revolution verfemten deutschen Klassiker, an Charles
Dickens, der eindringlich auf das Londoner Elend hinwies, an Henry
M. Stanley, der von seiner Zeitung ausgesandt wurde, um den
verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und einen ganzen
Erdteil erforschte, vor allem aber an Emile Zola, der die Probleme
der neuen Zeit an Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das
zeigte, woran sie täglich ahnungslos vorübergingen oder ahnungslos
beteiligt waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen,
das Warenhaus, die Waschküche, die Börse, die Budike, die
Kohlengrube, den Acker, die Fabrik und den Krieg, wie er wirklich
ist.«
In Berlin ist Kisch auch zwei Verbindungen eingegangen, die bis zum
Ende seines Lebens halten sollten. Im November 1925 ist er in die
Kommunistische Partei Deutschlands eingetreten. Und bereits kurz
nach seiner dritten Ankunft in Berlin, im November 1921, lernte er
im legendären »Romanische Café« – jener Institution, in der er dann
auch seinen Stammtisch hatte – eine große Liebe kennen: Jarmla
Haasová, geborene Ambrozová, eine Pragerin im Alter von 25 Jahren,
die bereits im Frühjahr 1921 nach Berlin gegangen war. Sie wurde die
von Kisch autorisierte kongeniale Übersetzerin aller seiner Werke
ins Tschechische, seine Interessenvertreterin in Prag bei Verlagen
und Redaktionen.
Es würde zu weit führen, hier ins Detail der Verbindung und
fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Kisch und Jarmila zu gehen. Das
wäre Thema eines gesonderten Vortrages. Interessant auch unter dem
Aspekt, dass sie bei jüngsten Buchveröffentlichungen zum 125.
Geburtstag von Kafka Erwähnung gefunden hat. Sie war nämlich seit
dem Besuch des Mädchengymnsiums »Minerva« in Prag eine enge Freundin
von Milena Jesenská und in diesem Zusammenhang in Begegnungen mit
Kafka involviert.
Zu Jarmilas Verdiensten – seit 1938 verheiratete Haasová-Necasová –
gehört auch dies: Der Titel »Rasender Reporter« – das war ihre Idee.
Im letzten Buch, das Kisch ihr kurz vor dem ersten Schlaganfall
geschenkt hatte – es waren die »Entdeckungen in Mexiko« aus dem
Wiener Globus-Verlag – lautete die Widmung:
»Für Jarmila, Autorin der Bezeichnung ‚rasender Reporter‘, der ich
vollkommen zustimme.«
Und als Kisch dann in Prag zu Grabe getragen wurde, da gingen in der
ersten Reihe der Trauernden die Personen, die ihm am Nächsten
gestanden haben: Bedrich, sein jüngster und einziger noch lebender
Bruder – zwei sind in deutschen Konzentrationslagern hingemordet
worden, einer im Ersten Weltkrieg gefallen; seine Frau Gisl und
Jarmila Haasová-Necasová.
Kehren wir zurück nach Berlin. Kischs dritter Aufenthalt in der
deutschen Hauptstadt ist ebenfalls abrupt beendet worden. Diesmal
durch den Terror der faschistischen Machthaber. Am 28. Februar 1933,
in aller Hergottsfrühe nach dem Reichstagsbrand, wurde er in seinem
Quartier in der Güntzelstraße verhaftet. Zunächst brachte man ihn
ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Einige Tage darauf wurde er
ins Zuchthaus Spandau gesperrt.
Kisch gehörte zu den meistgehaßten Journalisten und Schriftstellern
der deutschen Faschisten. Er stand ganz oben auf ihrer schwarzen
Liste – so wie seine Werke auch ganz oben auf der Liste jener Bücher
standen, die bald darauf am 10. Mai den Flammen übergeben worden
sind. Kisch war für sie ein rotes Tuch, weil er mit seiner Autorität
schon seit Jahren viele Tribünen – Versammlungen, Konferenzen –
genutzt hatte, um seine Berufskollegen wie auch die Öffentlichkeit
vor der heranziehenden faschistischen Gefahr zu warnen und gegen den
Krieg zu mobilisieren. So, wie er das dann auch in den kommenden
Jahren getan hat, in Frankreich, Australien, Spanien, Mexiko.
Kisch war bekanntlich tschechoslowakischer Staatsbürger und so mußte
er aufgrund von diplomatischen Initiativen aus Prag wieder
freigelassen wer- den. Am 11. März 1933 hat man ihn unter
Polizeibewachung an die tschechoslowakische Grenze abgeschoben.
Damit war Kischs dritter Aufenthalt in Berlin endgültig beendet.
In Prag angekommen, nahm er sofort wieder die Feder zur Hand und
schrieb den Bericht »In den Kasematten von Spandau«. Es war dies der
erste, auch international beachtete Bericht eines Augenzeugen über
die Verbrechen der Faschisten in Deutschland, über grausame
Mißhandlungen, blutige Folter und Totschlag von namenlosen
Arbeitern, berühmten Intellektuellen und namhaften Politikern.
Kischs Bericht ist zuerst von der »Arbeiter-Illustrierte Zeitung«
veröffentlicht worden. Sein Verhalten in der Berlin wie auch in
späteren Zeiten geht konform mit dem Thema dieser Konferenz: Er ist
entschieden aufgetreten gegen den Faschismus. Und die Reportagen und
Bücher, die der Internationalist Kisch von allen Kontinenten
lieferte, sie haben den Lesern das Verständnis für Menschen anderer
Kulturen ins Haus gebracht. Es sind noch immer wunderbare Beiträge
gegen Fremdenfeindlichkeit.
Die Rezeption der Kischischischen Werke in Deutschland hat einen
wechselhaften Verlauf genommen. In der Weimarer Republik sind seine
Bücher immer wieder aufgelegt worden: »Prager Pitaval« – 10
Auflagen. »Schreib das auf, Kisch – 10 Auflagen. »Paradies Amerika«
– 32 Auflagen. Im »Tausendjährigen Reich« war er natürlich verboten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er zunächst in der damaligen Ostzone
ein schnelles come back erlebt. Der neugegründete Aufbau-Verlag hat
sich seiner angenommen und schon im Herbst 1947 war der erste Kisch
auf dem Ladentisch: Sein autobiografisches Buch »Marktplatz der
Sensationen«.
Es war, nebenbei gesagt, auch das erste Buch, das ich mir damals
nach dem Kriege von meinem Lehrlingsgeld gekauft habe.
Nach Gründung der DDR ist Kisch dann in schönen, sorgsam betreuten
Ausgaben und Auflagen verlegt worden. Manche meinen, er sei dort als
ein Säulenheiliger behandelt worden. Natürlich ist der Mann aus dem
Prager »Bärenhaus«, der jüdische Kommunist, der »Rasende Reporter«,
dieser Meisterjournalist ist ein Vorbild für junge Journalisten
gewesen, dem es nachzueifern galt.
In der Bundesrepublik ist Kisch lange Jahre von einflußreichen
Kräften mit spitzen Fingern angefaßt worden – so, wie man übrigens
auch Carl von Ossietzky, Bert Brecht, Eugen Kogon oder sogar
Heinrich Heine mit spitzen Fingern angefaßt hat. Eine Bresche in die
öffentliche Anerkennung von Kisch hat der Hamburger Verleger Henry
Nannen, Chef der einflußreichen Illustrierte »stern« im Jahre 1979
geschlagen: Er stiftete einen Egon-Erwin-Kisch-Preis für
Journalisten, der alljährlich in mehreren Kategorien vergeben worden
ist. Dieser Preis ist zwar vor einigen Jahren in Henry-Nannen-Preis
umgewidmet worden, aber die Krone der Schreiber, die Reportage, wird
nach wie vor als Egon Erwin Kisch Preis verliehen. Zu Kischs 100.
Geburtstag im Jahre 1985 hat der Journalistenverband der DDR
ebenfalls einen Kisch-Preis gestiftet, mit dem junge Journalistinnen
und Journalisten für herausragende Reportagen ausgezeichnet worden
sind.
Wie hier in Prag, so ist nun auch in Berlin Kischs 60. Todestag zum
Anlaß genommen worden, Kisch auf besondere Weise zu würdigen.
Erstmalig ist in der deutschen Hauptstadt eine Kisch-Ausstellung
gezeigt worden. Und zwar vom 31. März bis 16. Mai in der
Mediengalerie des Hauses der Buchdrucker, einem historischen Gebäude
aus jener Zeit, in der Kisch in Berlin tätig gewesen ist.
Organisatoren und Schirmherren dieser Ausstellung – mit dem Kurator
Marcus Patka aus Wien – waren der Landesverband Berlin-Brandenburg
der großen Gewerkschaft ver.di, der Schriftstellerverband und die
deutsche journalisten union. Begleitend zur Ausstellung fanden
Lesungen aus Kischs Büchern statt sowie Diskussionen über
zeitgenössische Probleme des Journalismus. Ein Berliner Verlag, der
sich vornehmlich jüdischer Thematik widmet, hat in seiner noblen
Reihe »Jüdische Miniaturen« mit Biografien prominenter jüdischer
Persönlichkeiten von Moses Mendelsson bis Kurt Tucholsky zum 31.
März diesen Jahres auch Egon Erwin Kisch herausgebracht.
Das Goldene Prag kann stolz sein auf diesen Sohn ihrer Stadt –
diesen Zeitgenossen von Kafka, dessen 125. Geburtstag hier wie auch
in Deutschland auf vielfältige Weise gewürdigt worden ist. Gleich
Kafka ist auch Kisch eine Institution. Man muß nicht einmal den
Vornamen nennen, wenn von ihnen die Rede ist. Einfach: Kisch.
Dass der Primator sich zu Kischs Fürsprecher macht, ehrt ihn und das
Goldene Prag. Es wäre großartig, wenn es ihm gelingen würde, im Haus
»Zu den zwei goldenen Bären« in der Melantrichová bis zum 125.
Geburtstag des »Rasenden Reporters« am 29. April 2010 wenigstens
einen Raum in ein kleines Kisch-Museum zu verwandeln. Zur Ehre Prags
und ihres bedeutenden Sohnes. Und zur Freude der Touristen aus aller
Welt.
Mein Anliegen ist es nicht gewesen, einem gewissen Zeitgeist
folgend, im Leben und Werk von Menschen herumzustochern, um sie
verächtlich zu machen – nur, weil sie Kommunisten gewesen sind. Es
ging mir auch nicht um eine Auseinandersetzung mit Kritikern, die am
gedeckten Tisch sitzen und aus heutiger Sicht über Meinungen und
Taten des streitbaren – und auch umstrittenen – Vollblutjournalisten
Kisch urteilen, der oft dem Elend in die Augen geblickt hat und am
Hungertuche nagte – und der auch unter großen Gefahren gegen Krieg
und den mörderischen deutschen Faschismus gekämpft hat. Ich will
jene unterstützen, die – frei von ideologischen Scheuklappen - Kisch
den ihm gebührenden Platz einräumen. Immerhin: Im Mai 1938 – bei den
letzten freien Wahlen vor dem Einfall der deutschen Truppen – ist er
in den Stadtrat von Prag gewählt worden. Es gibt viele Urteile über
ihn. Ein sehr treffendes stammt von dem deutschen Schriftsteller
Leonhard Frank. Schon vor dem ersten Weltkrieg hat er Kisch kennen
gelernt und sagte nach dem Tod seines Freundes:
»Kisch hatte eine Eigenschaft, die wenige Menschen haben - er war
ein echter Freund... Seine Bücher leben, und sie werden länger leben
als die der Herren, die durch die geschichtlichen Ereignisse der
ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nichts dazu gelernt
haben.«
Es war mir ein Vergnügen, an dieser traditionsreichen
Karls-Universität für Kisch sprechen zu dürfen. |
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