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Der kleine
Bruder - in der Uniform der spanischen republikanischen Armee während
des Freiheitskampfes gegen die Faschisten 1936 - 1939. Der Chirurg Kisch
arbeitete während dieser Zeit im »Hospital am Meeresstrand«, das in
Benecasim bei Valencia für die Interbrigaden eingerichtet worden war.
Foto: © Archiv Haupt |
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Gisl aus der
Brigittenau - Egonek diktiert und Gisl ›klopft es in die Maschine‹,
vermutlich in ihrer Wohnung in der Güntzelstraße 3 in Berlin. Foto:
© Archiv Haupt |
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Jarmila - hier
in Bollersdorf am Schermützelsee bei Berlin, wo sich Kisch im Frühjahr
1927 in der Pension Kleine Weiße Taube zurück gezogen hatte, um die
Manuskripte für vier Bücher druckfertig zu machen. Foto:
© Archiv Haupt |
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links:
Der Neffe - hinter Onkel Egonek während der Autogrammstunde in Prag,
die Kisch nach Erscheinen des Buches über das »Paradies Amerika« im
Dezember 1929 gegeben hat.
Foto:
© Archiv Haupt
rechts:
Der Schneider - in seiner Wohnung in der Karl Marx Allee in Berlin,
unweit vom Alexanderplatz. Foto: Klaus Haupt |
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VERWANDTE UND BEKANNTE
Der kleine Bruder
Der Pulverturm ist nicht zu verfehlen. Das figurengeschmückte
gotische Bauwerk steht mitten in Prag. Leicht zu finden für den
Beginn eines Bummels auf Kischs Wegen.
Schreiten wir also durch das Tor des Pulverturms. Die Celetná
entlang zum Altstädter Ring in die Melantrichova, nur wenige
Schritte entfernt von der Aposteluhr. Dort begann Kischs Leben. Im
Haus Zu den zwei goldenen Bären. Es ist eines der ältesten Häuser,
mit einem der schönsten Renaissance Portals in der Stadt. Die ersten
Erwähnungen gehen auf das 13. Jahrhundert zurück. Doch wir werden
nicht so vermessen sein, es zu beschreiben, nachdem Kisch es schon
getan hat:
»Wahrlich, eine helle Pracht ist dieses Portal. Zwei steinerne
Bären, die seit Jahrhunderten das Gold ihres Fells bewahrt haben,
hüten das Tor, ihrerseits behütet von zwei mit Ruten bewehrten
Jünglingen. Unten, fast in Straßenhöhe, sprießen aus den Mündern
zweier menschlicher Profile dichte Ranken, Früchte und Blätterwerk,
zuerst aufwärts und dann in leichter Rundung sich einander
zuwendend.«
So lesen wir im Marktplatz der Sensationen und fahren fort: »Noch
heute steht dieses Haus, es steht sogar unter Denkmalsschutz, aber
die Firmentafel neben dem schönen Portal ist für immer dahin...«
Dahin ist mit den Jahren auch das goldene Bärenfell. Anstelle des
alten Firmenschildes - das darauf hinwies, das hier Kischs Vater
Hermann mit seinem Bruder Samuel einen Tuchladen betrieb - aber
befindet sich nun eine schlichte Gedenktafel mit dem Porträt von
Kisch. Hier, so steht zu lesen, Kozná ulicka Nr. 1, Ecke
Melantrichova, wurde der Schriftsteller und Reporter am 29. 4. 1885
geboren.
Die alte Wohnung mit den riesigen Zimmern im ersten Stockwerk, in
der Egon aufgewachsen ist, existiert noch immer. Verändert freilich,
und nichts zeugt mehr davon, dass hier die Kischs lebten - und die
Jungen mit ihren Freunden herumtollten und Fußball spielten. Nur die
Erinnerung ist geblieben, lebendig in Büchern und Berichten.
»Er hat mir's bis heute nicht verziehen, dass ich ihn da rausgelockt
habe.« Die das sagt gehört zur Familie der Kischs, und sie meint
ihren Mann, Friedrich oder Bedrich oder Kaspar, wie sie ihn nennt,
weil das schon in der Familie so usus war und auch bei seinen guten
Freunden so üblich ist. Er ist der einzige der fünf Brüder, der noch
lebt. Wir sprachen sie und den »kleinen Bruder« in ihrer neuen
Prager Wohnung, von der man zwar einen herrlichen Blick auf die Burg
hat, aber es ist halt nicht das Haus Zu den zwei goldenen Bären.
Kaspar Kisch - der »kleine Bruder«. Das ist natürlich heutzutage
mehr Ulk. Schon anbetracht des vollen schneeweißen Haares. Immerhin
ist der »kleine Bruder« über die Siebzig. Aber er ist der Jüngste
(1894 - 1968) der Kisch-Brüder. Neun Jahre jünger als Egonek, und
auch um ein paar Zentimeter kleiner gewachsen als der mit seinen 1,
65 Meter. »Ich wurde liebevoll von ihnen geprügelt«, erinnert er
sich nicht ohne Schmunzeln. Eines hat er mindestens mit Egonek
gemeinsam: Freunde und Bekannte in aller Welt. »Patienten in aller
Welt«, sagt er lachend. Er hat am langen Marsch mit Mao Tse Tung
durch China teilgenommen. Als Chirurg war er auch im spanischen
Freiheitskrieg beteiligt. In Benicasim an der Mittelmeerküste
nördlich von Valencia, dem zum Lazarettort der Internationalen
Brigaden umgewandelten Luxusressort der Reichen des Landes, hat er
die tschechoslowakische Krankenstation geleitet. »Mit Weinert, Bredel,
Busch war ich zusammen. Viele Freunde habe ich in der DDR.«
Wehmütig erinnert er sich der alten Wohnung, aus der nur ein Teil
des Mobiliars mit in die neue genommen werden konnte. »Das
Wertvollste aber haben wir.« Über der Couch hängt ein Gobelin. »Den
hat noch die Großmutter gemacht.« Da denken wir gleich an die
zwerchfellerschütternde Episode »Salzburg ist die Hauptstadt von
Salzburg« aus Kischs Buch Marktplatz der Sensationen. Die Großmutter
hatte es für Nonsens gehalten, dass »Salzburg die Hauptstadt von
Salzburg« ist. Und hatte sich ereifert - »Frau Popper ist die
Hauptstadt von Frau Popper«, um den Blödsinn der
Salzburg-Feststellung zu illustrieren. Großmutters starre Haltung
brachte Egonek ein paar Ohrfeigen ein und obendrein bei seinem
Schulvortrag in arge Schwulitäten.
Schließlich frage ich den »kleinen Bruder«, ob Egonek, der
Berichterstatter im Magdalenenheim für gefallene Mädchen, einem der
Glanzstücke in seinem autobiografischen Marktplatz der Sensationen,
wohl wirklich Bordellgast gewesen sei, oder ob er in der berühmten
Reportage seine »Bekanntschaften« nur des Effekts wegen vorgespielt
habe. Da ergreift Bedrich Kischs Frau das Wort und erklärt mit
ernster Miene, als gehe es darum nun auch den guten Ruf der Familie
zu wahren, nachdem Kisch schon den der Ersten Staatsrealschule mit
seinem Berufswunsch »Journalist« in Gefahr zu bringen drohte: »Natürlich, aber nur studienhalber.« Sie ist dem Rasenden Reporter
nur einmal in ihrem Leben für einen kurzen Augenblick begegnet und
weiß wenig von dessen Wegen. Kaspar Kisch jedoch kennt seinen Bruder
genau. Er winkt ab und entgegnet, keinen Widerspruch duldend:
»Natürlich nicht nur studienhalber.«
Am Fenster, auf einem Schrank, steht eine Büste von Kisch. Während
der deutschen Okkupation war sie im Keller des Hauses Zu den zwei
goldenen Bären verborgen. Einer der Hausbewohner hat sie behütet.
Verabschieden wir uns vom »kleinen Bruder«, kehren wir zurück in die Melantrichova.
Wir kennen die Geschichte von der Schmuckseite mit Fotos alter
Prager Turmuhren, die in der Arbeiter-Illustrierten Zeitung, der
berühmten A-I-Z, erschienen ist und wofür Kisch die Texte
geschrieben hat. Das war eine Arbeit, die als ein Beispiel für seine
Tiefgründigkeit genannt wird, wie er auch an der geringsten Arbeit
feilte. Das Schicksal hat es gewollt, dass der kleine Laden neben
dem prachtvollen Tor, in dem einst S. Kisch & Bruder, Tuchhandlung
Ihr Domizil hatten, und in welchem dem kleinen Egon »die Idee kam,
eine Zeitung zur Aufklärung der Massen herauszugeben« - dass der
alte Laden unter seinem Deckengewölbe nun eine
Uhren-Reparaturgenossenschaft beherbergt. Prager Uhren stehen in den
Regalen. Alte und neue. Wecker. Uhren mit Spielwerk, deren Melodien
wohl schon ein halbes Jahrhundert erklungen sein mögen.
Gehen wir durch ein paar Durchhäuser, die geheimnisvollen
Lieblingswege des jungen Egon - diese besonderen Prager
Verbindungen, auf denen man von einer Straße oder einem Platz auf
geradezu wunderbaren Wegen ein anderes Altstadtviertel erreicht -,
dann kommen wir zum Graben, in die Pánska, die Herrengasse.
Hier sind gleich zwei Stätten, die für Kisch von Bedeutung waren:
das alte Piaristen-Kloster, in dem er einen Teil seiner Schulzeit
verbrachte, und das Redaktionsgebäude, in dem einst das Prager
Tagblatt seinen Sitz hatte. Im Frühjahr 1906 begann er in diesem
Hause als Volontär seine Laufbahn im Journalismus. Kurz darauf
wechselte er in die Bohemia, die andere deutschsprachige
Tageszeitung Prags.
Einer der Freunde von Kisch zieht mit uns durch die Altstadt:
Vincenc Necas, ein Bär von Gestalt mit einem Herzen voller Wärme,
einer der bekanntesten Prager Journalisten, Kommunist seit früher
Jugend, Freund vieler bekannter tschechoslowakischer Genossen und
deutscher Antifaschisten. Er besorgte die Druckerei, damit die
legendäre A-I-Z, als die Nazis in Deutschland mit dem Morden
begannen, in Prag weiter erscheinen konnte - bis das Leben deutscher
Hitlergegner auch an der Moldau in Gefahr geriet. In der Wohnung,
die Vincenc mit sein seiner Frau Jarmila Haasová, die er 1938
heiratete, bewohnt, gingen manche Emigranten ein und aus. John
Heartfielt, Schöpfer und Meister der künstlerischen Fotomontage, war
einer von ihnen. Er wohnte nur ein paar Schritte entfernt, im selben
Haus wie der tschechische Journalist, Literaturkritiker und
Widerstandskämpfer Julius Fucík mit seiner Frau Gusta, bevor er nach
der deutschen Okkupation im März 1939 in die Illegalität gehen mußte.
Um ihrem Freund Johnnie das bescheidene Untermieterzimmer etwas
aufzumöbeln, spendierten sie ihm eine alte Wickelkomode. Die stammte
aus dem Hause Kisch - und Klein Egon war darauf gewindelt worden.
Vincenc Necas kennt die Prager Gassen, kennt Kischs Wege.»Siehst du,
hier war ein Teil der Redaktion der Bohemia untergebracht.« Und wir
verschwinden durch ein Haustor in der Liliova, jener Gasse an der
Karlova unweit der Karlsbrücke, in der sich auch das Haus Zur
goldenen Schlange befindet. Vor rund 200 Jahren hat hier ein
Armenier namens Gorgos Hatalah el Damaschki den ersten Prager Kaffee
gebrüht, der später so berühmt werden sollte.
»Und hier ging Egonek immer entlang.« Schwupp, sind wir wieder vom
Hof herunter, durchs Haustor und ein paar Straßen weiter hinein in
die Annengasse zum Anenské námesti, dem Annenhof. Das ist ein
riesiger Gebäudekomplex mit einer alten, verfallenen Klosterkirche
im Hintergrund. Gegenüber befindet sich das Theater am Geländer.
Der alte Annenhof - hier war das Hauptdomizil der Bohemia. Hier
wurde sie gesetzt und gedruckt. Vor vielen anderen auch die
Reportage vom Brand der Schittkauer Mühlen. Jener Text, der Kisch am
Erscheinungstag zweifelhaften Ruhm einbrachte, da er mehr
beschrieben hatte als geschehen war. Der ihn aber zu der
grundlegenden Entscheidung für sein ferneres Journalistenleben
führte: Nur noch die Wahrheit zu berichten. Der alte Wasserturm aus
dem 14. Jahrhundert, zu dessen Füßen der junge Kisch stand, nichts
als Flammen sehend und dann seiner Phantasie die Sporen gebend, er
steht noch immer. An der Moldau neben dem legendären Künstlerhaus
Mánes, das in den dreißiger Jahren ein Zentrum der
antifaschistischen Prager Künstler wie der deutschen Emigranten
gewesen ist. Eine Ausstellung der Fotomontagen von John Heartfield,
Anklagen gegen Hitler und seinen Mordstaat, hat besonderes Aufsehen
erregt. Der Nazi-Botschafter verlangte von den tschechoslowakischen
Behörden ein Verbot.
Unsere Gedanken sind schon wieder abgeschweift. Vincenc zieht uns
weiter, in die Kettengasse gleich um die Ecke. »Hier ist das Café
Montmartre gewesen. Nach mitternächtlichem Redaktionschluß ist der
Egonek hier eingekehrt, hier tanzte er oft mit der ›Revoluce‹ Schlapak.
Wer erinnert sich nicht der Beschreibung dieser schönsten Prager
Tänzerin jener Zeit?«
Vorbei die Jahrzehnte - Jahre der Emigration in Mexiko. Als Kisch im
März 1946 endlich wieder in die geliebte Heimat zurückkehren kann,
da ist es Vincenc Necas, damals Redakteur der kommunistischen
Tageszeitung Rudé právo, der ihn zusammen mit dem Chef des
außenpolitischen Ressorts, Kischs langjährigem Freund Andre Simone,
auf dem Prager Flugplatz empfängt. Und kurz darauf wird Kisch - der
Genosse Kisch - auf dem ersten Parteikongreß der KPTsch nach der
Befreiung stürmisch begrüßt.
Vincenc Necas kann von seiner Wohnung am Platz der Oktoberrevolution
hinüber sehen nach Strechovice, auf die Villa in der Straße U
laboratore 22. Dort hat Kisch mit seiner Frau Gisl die letzten
eineinhalb Jahre seines Lebens verbracht. »Dort oben hinter dem
großen Balkon war sein Arbeitszimmer, erzählt er, als wir dann vor
der Villa stehen. Hier entstanden die letzten Reportagen, auch Karl
Marx in Karlsbad. Durch diese Tür wurde er hinaus getragen, und Vincenc begleitete ihn im Krankenwagen. Wenige Tage später, am 31.
März 1948, starb Egon Erwin Kisch.
John Henry - der Kisch aus Berlin
Kaum war ich vierundzwanzig Stunden in meinem neuen Londoner
Quartier, da klingelte das Telefon: 4 Hyde Park Crescent, London W.
2. »Eine gute Adresse!«, hatte mir der Botschafter Ihrer Majestät in
der DDR in Berlin vor meiner Abreise versichert. Das war sie
wahrlich, wie ich bald feststellen konnte. Gut gelegen im Dreieck
zwischen Edgware Road und Bayswater Road, die sich am berühmten
Marble Arch treffen, wo einst die Verurteilten öffentlich gehängt
worden sind und die Oxford Street mit dem Kaufhaus Selfridges und
den vielen schönen Shops ihren Anfang nimmt. Nur wenige Minuten
Fußweg zum Hyde Park mit einmaligem Sommer-Sonntagsvergnügen: Barfuß
über englischen Rasen schreiten, für ein halbes Pfund Leihgühr im
Liegestuhl liegen mit dem Packen dicker Sonntagszeitungen. Und
gleich neben dem Mietshaus aus festgebrannten roten Ziegeln, eine
Immobilie der Kirche, das schlichte Gotteshaus der Church of
England. Einmalig in der Stadt. Regelmäßig werden einmal im Jahr
Pferde gesegnet. Wie aus dem Bilderbuch gekleidet kommen die Ladies
und Gentleman am fälligen Sonntagvormittag angeritten. Die Pferde
gestriegelt. Ohne aus dem Sattel zu steigen, reihen sie sich im
Halbkreis vor der Kirche auf. Und der Pfarrer hält seinen
Gottesdienst im Freien und erteilt zum Abschluß Pferd und Reiter
seinen Segen. Einmal heiratete hier auch eine berühmte
Persönlichkeit. Ein Mann mit einem auffallenden Gebiß: der Rolling
Stone Mick Jagger.
Es war der erste Anruf, der mich in meinem neuen Quartier als
Zeitungskorrepondent erreichte. Ich war gespannt, nahm den Hörer,
und aus der Muschel tönte es: »Hier ist Kisch!« - Was, zum Teufel,
soll das, jagte es mir blitzschnell durch den Kopf. Wer macht sich
da einen joke mit dir? Das lag durchaus auf der Hand. Es war Mitte
Mai und am 29. April hatten wir in Berlin mit diversen
Veranstaltungen den 100. Geburtstag des Rasenden Reporters gewürdigt
- und ich als einer der Initiatoren war mittendrin: In der Akademie
der Künste hatte mit Präsident Konrad Wolf eine Festveranstaltung
stattgefunden; Unter den Linden Ecke Schadowstraße, nur wenige Meter
von den ersten Redaktionsräumen der Arbeiter-Illustrierte Zeitung
entfernt, die viele Beiträge von Kisch veröffentlicht hat, war ein
sehr schönes Café Kisch eröffnet worden; die Post hatte einen
Sonderbrief und eine Sonderbriefmarke herausgegeben, wie übrigens
auch die Bundespost zu diesem Anlaß eine Sondermarke mit
Kisch-Porträt ediert hat; Verlag und Redaktion Junge Welt, die in
Bollersdorf bei Buckow am Schermützelsee ein Ferienheim hatten,
direkt neben der einstigen Pensiom Kleine Weiße Taube - wohin sich
Kisch im Frühjahr 1927 zurück gezogen hatte, um vier Bücher
fertigzustellen, darunter den Reportageband Wagnisse in aller Welt
und das Kriminalistische Reisebuch - waren zur Erinnerung eine
Gedenktafel angebracht und ein Kisch Weg eingeweiht worden; auch in
Berlin hatte eine Straße Kischs Namen erhalten; und schließlich war
auch der reich illustrierte Prachtband Kisch war hier - Reportagen
über den Rasenden Reporter von Haupt/Wessel im Verlag der Nation
erschienen.
Aber es war kein joke. Wenngleich auch die Stimme klang, als käme
sie aus dem All. Ein leibhaftiger Kisch war am Apparat. John Henry
Kisch. Wohnhaft in London. Er war gerade aus Prag zurück gekehrt.
Man hatte ihn eingeladen zu den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag
des Rasenden Reporters. Und einer meiner Freunde hatte ihm von mir
erzählt und ihm die Londoner Telefonnummer gegeben. So lernte ich
also erneut einen Kisch kennen.
John Kisch ist Berliner. Stammt also aus dem Berliner Zweig der
Kischs. Geboren am 5. Mai 1913 in der Lutherstraße 1, Berlin W. 15 -
nun wohnhaft im Royal Borough of Kensington and Chelsey. Nicht weit
entfernt vom einmaligen Einkaufsparadies Harrods. »Mein local shop«,
meinte er einmal, verschmitzt lächelnd, weil er dort in der Regel
seine Einkäufe tätigte: Mein Tante Emma Laden. Im Royal Borough ist
er im Alter von 85 Jahren auch verstorben. So hatte er zumindest zu
seiner Geburt und im Alter »eine gute Adresse«.
Als Egon Erwin im Jahre 1913 aus Prag das zweite Mal nach Berlin
reist, gerade 28 und um in der Weltmetropole als Journalist Fuß zu
fassen, da hat ihm die Mutter aufgetragen, Tante Erna in der
Lutherstraße zu besuchen, die Frau von Alfons Kisch. Was die ihm
eröffnet, gehört zum Kapitel Familiäres, allzu Familiäres mit dem er
später sein Buch Die Abenteuer in Prag eingeleitet hat. Tante Erna
teilt ihm nämlich mit: »Du bist Onkel geworden.« Tante Ernas Tochter
hatte einen Sohn beboren. Also Weltpremiere an der Spree: Nun ist
Egonek Onkel. Die Tante präsentiert ihm den Knaben, der den Namen
Heinrich/Heinz bekommen hat und dessen Urgroßvater ein Bruder von
Egoneks Großvater ist.
»Ich habe ihm gefallen«, habe ihm später die Mutter erzählt,
erinnert sich John, als wir nach dem ersten Telefonat unseren ersten
Treff haben. Da legt er Wert auf die Feststellung, dass er der
einzige, noch lebende männliche Nachkomme ist. »Sonst gibt es nur
noch weibliche Kischs.« Nämlich die Frau des im KZ umgekommenen
Kisch-Bruders Arnold, die Frau des Sohnes Herbert sowie dessen
Schwester. Mit Symphatie hat Kisch aus Prag dann auch in späteren
Jahren seinen »Onkelmacher« aus Berlin begleitet. Der studiert
zunächst in Hamburg Medizin. Aber Onkel Egon belehrt ihn eines
anderen. »Die Journalisten haben für die Welt mehr getan als die
Mediziner«, behauptet er. Und Heinrich/Heinz sattelt um. Auch er
tritt ein in die Gilde der Menschen mit der Feder. In Berlin findet
er Anstellung beim 12-Uhr-Blatt und beim Berliner Tageblatt.
Im Jahre 1929 siedelt er über nach Prag und arbeitet dort als
Journalist, unter anderem für das Prager Tagblatt, bei dem Onkel
Egon dreiundzwanzig Jahre zuvor als Volontär die ersten Schritte
aufs Journalisten-Parkett gelegt hatte. Es gibt ein Foto, das Ende
1929 in einer Prager Buchhandlung aufgenommen worden ist: Kisch gibt
nach Erscheinen seines Buches Paradies Amerika eine Autogrammstunde
und hinter ihm steht neben Jarmila der Neffe aus Berlin. Der ist nun
ein tschechischer Heinrich: Jindrich. Mit den Initialen J. H. In
Prag wohnt er für eine gewisse Zeit im Bärenhaus bei Mutter Kisch.
Sie habe wunderbar gekocht, erzählt er. Am Liebsten habe er ihre
Gans gegessen. »Eine jut jebratene Jans ist eine seltene Jabe Jottes.«
Als die deutschen Truppen im Jahre 1938 die Tschechoslowakei
überfallen, kehrt er dem Land den Rücken - diesen Schritt mit
englischem understatement kommentierend: »Wir mochten uns nicht.« -
und emigriert in das Inselreich. Er wird britischer Staatsbürger,
mutiert die Initiale J.H. in John Henry und als der Zweite Weltkrieg
ausbricht, zieht er in der britischen Armee in den Kampf gegen
Nazi-Deutschland. Als Presseoffizier betritt er wieder deutschen
Boden. Im Rheinland, zur britischen Besatzungszone gehörig, wurde er
mit der Herausgabe der Aachener Nachrichten betraut und baute später
der Neue Illustrierte auf, deren erster Chefredakteur er war.
Nach der Rückkehr ins britische Zivilleben, arbeitet John Kisch in
London mit Robert (Bob) Maxwell zusammen. Ihn hatte er in
Deutschland kennen gelernt. Maxwell, aus der fernen Osten der
Slowakei stammend, gehörte gleichfalls der britischen Armee an. Er
war im britischen Sektor von Westberlin verantwortlicher
Presseoffizier. »Als ich merkte, dass Bob es mit den finanziellen
Dingen nicht sehr genau nahm, trennte ich mich von ihm.« Wenn
Maxwell Jahrzehnte später, als er sich neben dem Australier Murdoch
zum führenden britischen Zeitungstycoon entwickelt hatte, Kisch auf
einer Party oder auf einem diplomatischen Empfang trifft, begrüßt er
ihn freudig. Und den Umstehenden stellt er ihn vor: »Kisch, mein
erster Mitarbeiter.«
Kisch spielt auch eine besondere Rolle im britischen Pressewesen -
allerdings ohne einen derart dramatischen Abgang, wie ihn Maxwell
genommen hat, der mit seinem Tod im Meer auch seinen Konzern
versenkte. John Kisch wird Chefredakteur der legendären The
Illustrated London News. Im Jahre 1967 zelebriert er mit dieser
ersten illustrierten Zeitung der Welt den 125. Geburtstag. Im Jahr
darauf geht er in Pension.
John Henry Kisch ist mit mir durch London flaniert. Manche
Eigentümlichkeit der Stadt hat er mir erklärt.
Gisl – rechte Hand und Kaffeekocherin
Gisl Kisch (1885 - 1962) habe ich nicht kennengelernt. Das Bild von
ihr wurde für mich gezeichnet aus den Erzählungen von Jarmila, aus
den Briefen von Kisch und Gisl an Jarmila sowie aus den Berichten
von Zeitgenossen. Die Zeitgenossen sprechen in ihren Erinnerungen in
erster Linie davon, was Gisl für einen ausgezeichneten Kaffee
gekocht hat.
»Gisl stellte jedem seine Tasse Kaffee hin«, schwärmte Anna Seghers,
die Freundin des Hauses. »Es gab immer die nötige Anzahl von Tassen
Kaffee für die unbeschränkte Zahl von Besuchern. Man sagt, daß es
nur einen Unterschied zwischem gutem und schlechtem Kaffee gibt.
Aber Gisls Kaffee muß doch von einer besonderen Art gewesen sein. Wo
sie ihn auch bereitet hat, in welchem Land und in welchem Zimmer, im
Krieg und im Frieden, legal oder illegal, wenn sie ihn eingoß,
vollzog sich ein Wunder, das man mit der Speisung der Fünftausend
vergleichen kann...
Jedenfalls, Gisls Kaffee reichte für alle. Wer ihn trank, wurde warm
und froh. Der Kaffee war stark und gut, wieviel Tassen es auch sein
mochten...«
Gisl Liner (auch Lyner geschrieben) ist eine Wienerin. Sie stammt
aus der Brigittenau, einem Arbeiterbezirk am Donauufer. Sie gehörte
zu den flotten jungen Damen, die sich regelmäßig im legendären Café
Central versammelten, als Musen von Peter Altenberg (1859 - 1919).
Im Café Central hat dieser legendäre Wiener Kaffeehaus Literat -
berühmt durch seine Prosaskizzen und Prosagedichte -etliche Jahre
sein Domizil. Dort hielt er Hof, der Mann der eigentlich Richard
Engländer hieß.
Im Café Central - das für ihn eine Art zu Hause gewesen ist, wohin
er sich gelegentlich auch die Post der geliebten Mutter schicken
ließ - und bei ihren Eltern, wo er zeitweise zur Untermiete gewohnt
hat. lernte Kisch Gisl näher kennen. Irgendwer hat erzählt, dass er
sie dem Altenberg weggeschnappt habe. Als Kisch dann im November
1921 nach Berlin übergesiedelt ist, fuhr sie ihm nach. Und Kisch
engagierte sie als seine Schreibkraft.
Natürlich war sie nicht nur die Kaffekocherin im Hause Kisch, die
von Anna Seghers und von allen Freunden gelobt worden ist. Sie war
vielmehr die unermüdliche, fleißige rechte Hand Kischs. Zeile für
Zeile, Seite für Seite, und Buch für Buch hat sie über den Zeitraum
von einem Vierteljahrhundert »in die Maschine geklopft«. Viele Texte
mehrfach, weil Kisch, der die Reportage in den Rang der Literatur
gehoben hat, immer wieder überarbeitete. Mitunter mehrere
Neufassungen schrieb, bevor der Text seinen Qualitätsansprüchen
gerecht wird.
Gisl hielt auch die notwendigen Kontakte, die Egonek nicht lagen
oder zu denen er keine Zeit hatte, so zu Verlagen und Verlegern.
Über alles berichtete sie ausführlich ihrer Freundin Jarmila. So
sind uns auf diese Weise viele Eigenschaften sowie Verhaltensweisen
aus Kischs Leben überliefert worden. Am 31. März 1927 schrieb Gisl
aus Buckow am Schermützelsee bei Berlin einen ausführlichen Brief.
Kisch hatte sich dort in der Pension Kleine Weiße Taube in Klausur
begeben, um vier Bücher druckfertig zu machen.
»Jetzt fangen wir mit dem Buch für Münzenberg an, aber der Egonek
weiß noch nicht, was er hineingeben soll, dabei eilt die Sache sehr,
denn es muß unbedingt am 15. April fix und fertig sein, er hat alle
Ehrenwörter gegeben, außerdem soll bis dahin auch noch das Max
H.-Buch (Max Hoelz - K.H.) fertig sein, mindestens hundert
schrecklich lange Briefe sind dafür abzuschreiben, durchzusehen und
eine Einleitung muß der Egonek dazu machen. Ich werde schon
verrückt, wenn ich nur an All die Sachen denke, weil ich mir nicht
vorstellen kann, daß wir damit fertig werden.« Am Ende haben sie es
doch geschafft: »Zaren, Popen, Bolschewiken«, der erste Sammelband
über die Sowjetunion; »Kriminalistisches Reisebuch«, eine
Schilderung von Verbrechen aller Zeiten und Länder; »Wagnisse in
aller Welt«, eine Auswahl internationaler Reportagen; »Max Hoelz:
Briefe aus dem Zuchthaus«, mit einem Vorwort von Kisch. Diese vier
Titel konnten den Verlagen pünktlich zum Druck gegeben werden.
Und dann schüttet Gisl der Jarmila, wie so oft, ihr Herz aus: »Zu
all dem habe ich gestern noch einen Brief vom Universum Verlag (das
ist der von Münzenberg) bekommen, sie wollen jetzt auch gleich den
›Vorfrühling‹ herausbringen (ein Buch, über das keine weiteren
Informationen vorliegen und das auch nicht erschienen ist), dabei
haben die Schweine den ganzen dritten Teil (150
Schreibmaschinenseiten) verloren, das soll ich also auch noch
abschreiben, und selbstverständlich müßte ich das ganze Buch noch
einmal durcharbeiten, aber ich weiß bei Gott nicht, wie ich es
machen soll. Am Abend seh ich gar nichts mehr, weil meine Augen
überanstrengt sind, Zeitung kann ich fast überhaupt nicht mehr
lesen, weil sie so kleingedruckt sind. Mit einem Wort, ich bin ein
vollständiger Krüppel.«
Manchmal begleitet Gisl Egonek auf auch seinen Reportagefahrten,
nach Moskau oder ins belgische Bredene sur Mer. Wenn er längere Zeit
unterwegs war, auf anderen Kontinenten, fährt sie ihm entgegen. Im
April 1929 nach Southampton, um ihn von der Reise ins »Paradies
Amerika« zu empfangen. Oder im April 1935 nach Toulon in
Südfrankreich, um ihn nach der Rückkehr von seiner Reise zu den
Antipoden in die Arme zu schließen.
Wie auch immer: Gisl ist allgegenwärtig. Und Kisch, so erinnerte
sich Anna Seghers, ohne Gisl nicht vorstellbar
Am 29. Oktober 1938 - nach dem Überfall der Deutschen auf die
Tschechoslowakei - haben Egonek und Gisl in Versailles geheiratet.
Jarmila im Romanischen Café
»Wo«, fragte ich Jarmila, »wo hast Du Kisch eigentlich kennen
gelernt.« Sie schaute mich an, als wolle sie sagen, wie kannst Du
nur so etwas fragen, und antwortete mit ihrer etwas rauhen tiefen
Stimme von der Art, wie man sie eher in Italien zu hören bekommt:
»Wo soll es schon gewesen sein. Im Romanischen Café natürlich.«
Das Romanische Café. Es war in der Weimarer Republik, also in den
Zwanzigern und ersten dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts,
der Treffpunkt der Boheme in Berlin. Der Name war abgeleitet von dem
»Romanischen Haus«, einem Geschäftshaus im neoromanischen Stil, in
dessen Erdgeschoß sich das Etablissiment befand. Tauentzien- Ecke
Budapesterstraße, gegenüber der Gedächtniskirche. Das Romanische war
kein Gaumentempel. Einen Sternekoch kannte man dort nicht. Aber die
geistige Kost, die verabreicht wurde, die war superb. Hier
versammelten sich »Meisterköche« unterschiedlichster kultureller und
künstlerischer »Küchen«. Schriftsteller, Dichter, Journalisten,
Schauspieler, Regisseure, Film- und Theaterkritiker, Maler,
Zeichner, Architekten, Komponisten, Musiker...
Sie trafen sich an ihren Stammtischen, vornehmlich im Bassin für
Schwimmer, einer Art Großraum-Separé mit etwa zwanzig Tischen:
Brecht und Zuckmeyer, Bronnen und Zweig, Döblin, Leonhard Frank,
Polgar, Roda-Roda, Anton Kuh und Else Lasker-Schüler, Schwägerin von
Schachweltmeister Emanuel Lasker, der ebenfalls dort anzutreffen war
wie auch Boxweltmeister Max Schmeling. Zum Malerstammtisch gehörten
Max Slevogt und Emil Orlik, seinerzeit neben Liebermann und Zille
der bekannteste Berliner Maler und Zeichner, geschätzt wegen seiner
Porträts. Leo Lania war dabei, Piscators Dramaturg, der junge Billy
Wilder, der im Romanischen die Idee für sein außergewöhnliches
Filmdebut Menschen am Sonntag diskutierte, der junge Konrad
Wachsmann, der eines Tages das noch heute berühmte Haus von Albert
Einstein in Caputh entwerfen sollte, und schließlich aus der Gilde
der Journalisten Alfred Kerr vom »Berliner Tageblatt«, Herbert
Ihering vom Berliner Börsen-Courier, Grossmann und Schwarzschild vom
grünen Weltbühne-Pendant Das Tagebuch...
Und vor dem Bassin für Schwimmer, einem großen rechteckigen Raum mit
Wartesaalatmosphäre, dem Nichtschwimmerbassin, in dem sechzig,
siebzig Tische standen und von einem Zeitungskellner Zeitungen aus
aller Welt offeriert wurden, fand die allgemeine Kundschaft Platz.
Gewöhnliche Caféhausbesucher, Touristen. Dieser Raum galt auch als
Wartesaal für Neugierige, die den Blick eines Prominenten zu
erhaschen suchten, und für solche, die Karriere machen wollten,
darauf hoffend, dass man sie entdeckt oder sich gar ein Mäzen
findet. Und oben, auf der Galerie, standen Spielertische. Da trafen
sich die großen Geister zu einer Partie Schach oder Dame.
Das also war der Ort, wo sich Kisch und Jarmila kennen gelernt
haben. Es war gegen Ende des Jahres 1921. Kisch war im November in
Berlin eingetroffen. Dass ihn einer der ersten Wege ins Romanische
Café führte, war kein Zufall. Er war, so sagte er einmal, ein
Lokalpatriot, »ein Patriot aller Lokale auf dieser Welt«. Das
Caféhaus gehörte zu seinen Arbeitsplätzen. Ja, es ersetzte ihm
mitunter sogar in gewisser Weise ein zu Hause. Überdies kannte er
sich auf diesem Berliner Terrain bereits aus. Als er sich vor dem
Ersten Weltkrieg für rund ein Jahr in Berlin niedergelassen hatte,
da hatte er seinen Stammplatz im Café des Westens gefunden, dem
Vorläufer des Romanischen Cafés für die berliner Boheme..
Man kann nicht sagen, dass Kisch dieses Mal in besonderer
Hochstimmung nach Berlin gekommen wäre. Hinter ihm lag ein
furchtbarer Völkerkrieg und danach in Wien ein Rufmord-Feldzug gegen
ihn, den im November 1918 von den Soldaten gewählten Kommandeur der
Wiener Roten Garde. Danach hatte er sich wacker geschlagen in
Zeitungen der Donaumetropole. Es ging schließlich um seinen guten
Ruf als Journalist. Immerhin hatte er bereits vor dem Ersten
Weltkrieg während seiner Zeit bei der renommierten deutschen
Tageszeitung Bohemia in Prag glanzvolle Berichte und Reportagen
geschrieben.
Nun also war er in Berlin. Jetzt wollte er an der Spree Fuß fassen,
nachdem sein erster Versuch in den Jahren 1913/914 durch den
Weltkrieg zunichte gemacht worden war. Und als er so zwischen den
Caféhaustischen dahin schlenderte, die Atmosphäre schnuppernd, da
entdeckte der geübte Blick des Sechsunddreißigjährigen an einem
Tisch eine junge hübsche Dame. Es war Jarmila. Im blühenden Alter
von fünfundzwanzig Jahren.
Jarmila stammte aus einer patriotischen tschechischen Familie. Der
Vater gehörte dem Komitee an, das sich für die Errichtung eines
Denkmals für Jan Hus auf dem Altstädter Ring eingesetzt hatte, das
im Jahre 1915 eingeweiht worden ist. Zum Hus-Tag wurde alljährlich
auf dem kleinen Balkon des Hauses auf der Kampa, das der Karlsbrücke
am Nächsten steht, eine Hus-Büste ausgestellt. Das war nicht nur
eine Sache des Protestes gegen die Habsburger, die nichts wissen
wollten von tschechischer, nationaler Emanzipation, sondern auch des
Mutes. Und im Sommer des Jahres 1902 erlebte die Sechsjährige, wie
Polizei in die Wohnung eindrang und die Büste beschlagnahmte. Der
Vater hatte sie, umrahmt von bunten Lampions und Kerzen, wiederum
vor das Wohnzimmerfenster gestellt. Der Kaiser sollte das sehen.
Aber Franz Joseph I wollte während seines Prag-Besuches und des
kaiserlichen Spaziergangs über die Karlsbrücke nichts wissen von dem
Mann, der in Prag gepredigt und gelehrt hatte und im Jahre 1415 als
»Ketzer« in Konstanz verbrannt worden ist. So hat der Alltag dem
Mädchen nicht nur Interesse für die Geschichte, sondern auf der Kampa auch soziales Verständnis gelehrt. Bis zu ihrem fünfzehnten
Lebensjahr war ihr Kiez die Moldauinsel mit den ungezählten
traurigen Menschenschicksalen, von Kisch im Roman Mädchenhirt
eindringlich geschildert.
Im Jahre 1915 beendete Jarmila Ambrozová das Mädchengymnasium
Minerva erfolgreich mit der Matura, dem Abitur in Österreich.
Minerva in der Prager Altstadt, das war eine Bildungsstätte ganz
besonderer Art: Gegründet im Jahre 1890 als erstes Mädchengymnysium
in Österreich-Ungarn. Ein Stolz der bildungsbewußten tschechischen
Patrioten. Für sie gehörte die Emanzipation der Frau zum Kampf um
die Emanzipation des tschechischen Volkes. Auserlesen war der
Lehrplan: Griechisch und Latein obligatorisch, Deutsch, Französisch
und Englisch Wahlfächer. Sport im Stundenplan fest verankert. Nahezu
täglich war in den Sommermonaten die begeisterte Schwimmerin Jarmila
nach dem Schulunterricht in der Moldau zu sehen. »Nur einmal geriet
ich in Panik«, gestand sie mir. »Da schwamm vor der Sophieninsel am
Nationaltheater plötzlich eine Ratte neben mir.«
Arco - auch das eine Legende vergangener Zeit. Es war der Treffpunkt
großartiger Schriftsteller und Dichter aus dem deutsch-jüdischen
Milieu. Nur einige Namen dieser Prager Plejade: Franz Werfel, der im
Jahre 1911 mit seinem Lyrikband Der Weltfreund Furore gemacht hatte
und in seiner Wiener Zeit während der Novemberrevolution zeitweilig
eng mit Egon Erwin Kisch verbunden war; Willy Haas, der sich als
Publizist, Essayist Kritiker und Drehbuchautor einen Namen gemacht
hat, 1925 in Berlin Gründer und Chef einer populären Zeitschrift mit
dem von Kisch stammenden Titel Die literarische Welt; Max Brod,
Romanautor, Verfasser der deutschsprachigen Libretti mehrerer
Janácek-Opern, bester Freund von Kafka und Behüter dessen Werkes für
die Weltliteratur. Als gelegentlicher Gast auch Franz Kafka.
Schließlich Ernst Polak als der einzige unter den Arconauten, der
keine nennenswerte Zeile zu Papier gebracht hat, aber mit seinen
profunden literarischen und philosophischen Kenntnissen unschätzbar
in dieser Runde als tonangebender Kritiker, Berater und Lektor, mit
dem Milena Jesenská ihre erste Ehe schließen sollte. Café Polak
nannte Kisch das Café Arco, wenngleich er dort nicht anzutreffen
war. Er hatte seinen Platz im tschechisch dominierten Bohemelokal
Montmartre, genau wie sein tschechischer Freund Jaroslav Hasek.
Kisch, der nicht nur tschechisch schlechthin gesprochen habe,
sondern das Cockney-Tschechisch der Vororte, so erinnerte sich Willy
Haas, »fühlte sich mehr zu den hübschen und humorvollen böhmischen
Mädchen des Nachtlokals Montmartre hingezogen als zu unserem
Literaturcafé Arco«.
In dieser Literaten-Runde tauchten also plötzlich die drei
Minervistinnen Milena, Stasa und Jarmila auf. Sie erstaunten die
Herren der Feder mit ihrem natürlichen Interesse an der
literarischen Arbeit, ihrer unbefangenen, offenherzigen
Diskutierfreudigkeit. Willy Haas konstatierte über jene Zeit im
alten Prag: »Wir lernten einen weiblichen Typus kennen, den wir nie
vorher geahnt hatten.« Nach der Matura studierte Jarmila, wie
übrigens auch Milena Jesenská, an der Prager Universität Medizin.
Nach fünf Semestern gab sie auf. Das Elend der Verwundeten, die aus
dem Ersten Weltkrieg kamen, die verstümmelten Körper, die blutigen
Verbände, sie konnte es nicht länger ertragen. So kehrte sie zurück
in das Metier des Wortes. Zunächst waren es Übersetzungen, womit sie
sich befaßte, dann auch der Journalismus. Auch Milena hatte das
Medizinstudium aufgegeben und auf ihrem neuen Weg den Kontakt zu
Kafka gesucht, um etwas von ihm ins Tschechische zu übersetzen. So
ergab es sich, dass Jarmila für ihre Freundin mehrfach Begegnungen
mit dem verehrten Franz hatte, Begegnungen, die diesen wiederum so
beeindruckten, dass er davon schriftlich Zeugnis mit gelegentlich
merkwürdigem Urteil über Jarmila ablegte. Die ihrerseits erwies sich
in einer kritischen Phase von Milena, die mit erheblichem
Drogenmißbrauch und auch leicht verwildertem Verhalten gegenüber
ihrem Lebensumkreis verbunden war, als treue Freundin: Auf Bitte von
Milenas Vater begleitete sie die Freundin ins Sanatorium, um ihr
dort eine moralische Stütze zu sein.
Während in dieser Nachkriegszeit Jarmila ihren Platz in der Welt des
Wortes suchte, traf sie ein schwerer Schlag: Der Mann ihrer ersten
Liebe und ihrer ersten Ehe nahm sich das Leben. Auch er war
Journalist, dieser Josef Reiner, Redakteur der liberalen
Tageszeitung Tribuna, ein begnadeter Lyriker und auch als Übersetzer
aus dem Deutschen ins Tschechische versiert. Jarmila und Josef
hatten sich in diesem Genre bereits durch eine gemeinsame
beachtliche Arbeit empfohlen. Der sensible Reiner hatte Gift
genommen, weil er fälschlicherweise glaubte, Jarmila habe ihn mit
Willy Haas betrogen. An diesem Selbstmord hat sie lange schwer
getragen. Wochenlang ging sie weinend zu Reiners Grab. »Der Willy
hat mich dann dort weg geholt,«
erzählte sie mir. Nach dem Trauerjahr schloß sie mit Willy Haas in
Prag in aller Stille die Ehe. Da mischten sich Verzweiflung,
Hilflosigkeit, Ehrenpflicht. Die Ehe hielt nicht lange, de facto nur
ein Jahr. Willy Haas war auch nicht der Mann, der zu dem lauteren,
selbstlosen Charakter Jarmilas paßte. Wie dem auch sei. Im Frühjahr
1921 verließ sie mit Haas ihre Heimatstadt Prag Richtung Berlin. Und
so befand sich also auch Jarmila in keiner rosigen Stimmung, als sie
Kisch im Romanischen Café kennen lernte.
Prag - das war es, was die beider Prager im Nu gegenseitig wie ein
Magnet anzog, und dazu die Symphatie. »Vom ersten Augenblick an
verband uns eine aufrichtige, herzliche Freundschaft, die durch
nichts getrübt wurde«, erinnerte sich Jarmila noch nach Jahrzehnten
mit Freuden. Die Stadt Prag, die er so sehr liebte, »war auch das
Band, das unsere Freundschaft knüpfte. Als ob er ein Stück Liebe zu
Prag auf eine Pragerin übertragen hätte.« So also begann im
Romanischen Café diese wunderbare Zusammenarbeit, diese zuverlässige
Freundschaft, diese enge Vertrautheit. Das hielt ein Leben lang.
Kisch gewann Jarmila, seine Arbeiten - die er generell in deutscher
Sprache verfaßte, obwohl tschechisch für ihn nahezu eine zweite
Muttersprache gewesen ist - ins Tschechische zu übertragen. Sie war
zu dieser Zeit unter anderem mit der Übersetzung einiger Erzählungen
von Jaroslav Hasek ins Deutsche befaßt. Kisch gab ihr als ersten
Text eine Passage aus seinem Kriegstagebuch Soldat im Prager Korps,
die den Übergang über die Drina schildert. Ein grausiges Stück
Kriegserlebnis. Jarmila sträubte sich zunächst, weil sie sich davor
fürchtete. Doch Kisch blieb hartnäckig und sie meisterte die
Aufgabe. Das war der Anfang. Sie wurde bis zur letzten Zeile die
kongeniale - von Kisch authorisierte - Übersetzerin aller seiner
Werke ins Tschechische. Ihr Name war schließlich in der
Tschechoslowakei unter Kischs Freunden und Lesern wie auch in seinem
internationalen Freundeskreis eng verbunden mit dem von Egonek.
Wie sehr er ihre Arbeit im Laufe der Jahrzehnte schätzte, geht aus
einem Brief aus Berlin vom 3. Januar 1931 hervor. Nach einem Dank
fürs Neujahrstelegramm gesteht Kisch: »Aber noch viel herzlicher muß
ich Dir dafür danken, wie Du die Übersetzung von ›Paradies Amerika‹
durchgeführt hast. Ich habe es von A - Z gelesen, es ist Dein
Meisterstück, und eine tierische Arbeit steckt darin. In den ganzen
326 Seiten ist kein einziger Fehler, - das heißt nur ein ganz
kleiner winziger Fehler: der Capt. Mackenzie auf S. 78 ist kein
›Steuermann‹, sondern ein ›Lotse‹.«
Welchen Wert Kisch auf das Urteil von Jarmila gelegt hat, kann man
seinem Brief aus Versailles vom 25. März 1936 entnehmen. Im
Zusammenhang mit der Arbeit am Buch Landung in Australien , speziell
hinsichtlich am »Case« genannten ersten Teil - wo er, bevor die
Reportagen über Australien folgen, zunächst über den Fall Kisch
berichtet, über Landeverbot, Verhaftung, Prozeß, Protestaktionen
u.s.w. - stellt er fest:
»Die Hauptsache ist, daß Du mir schreibst, was Dir von den Details
im ›Case‹ gefällt und was Dir nicht gefällt. Wenn Du jeden Satz
übersetzt, so hast Du doch die beste Kritk darüber, und Du weißt,
wie dankbar ich für jede tadelnde Kritik bin, wenn ich natürlich
auch nicht immer alles akzeptiere. Also schreib mir, was Dir unklar
oder blöd vorkommt.
Am besten, Du legst Dir einen Zettel auf den Schreibtisch und
notierst Dir gleich, was Dir unliebsam auffällt. Es ist zum
erstenmal, daß Du ein ungedrucktes Buch von mir übersetzt, und
deshalb kann man alle Anregungen noch in die deutsche
Originalausgabe hineinarbeiten.«
Es blieb nicht beim Übersetzen. Jarmila wurde zur journalistischen,
literarischen Mitarbeiterin, zur Interessenvertreterin in Prag.
Kisch suchte ihre Kritik, sie machte Vorschläge zur Textauswahl für
seine Bücher in Prag, verhandelte mit Redaktionen und Verlagen,
nachdem Kisch im März 1933 Deutschland verlassen mußte und dann nach
Versailles übergesiedelt und Jarmila angesichts des faschistischen
Terrors ihrerseits endgültig nach Prag zurückgegangen war. Der Titel
Rasender Reporter - er stammt von Jarmila. Noch in dem letzten
seiner Bücher, das er ihr wie alle Erstausgaben mit Widmung schenkte
- die Entdeckungen in Mexiko, erschienen 1947 im Aufbau- Verlag
Berlin - bestätigt er sie am 16. August 1947 als »Autorin der
Bezeichnung ›rasender Reporter‹, der ich völlig zustimme«.
Wo immer Kisch in der Welt unterwegs gewesen ist und die Umstände es
erlaubten: Jarmila erhielt von ihm Post - Briefe oder zumindest eine
Ansichtskarte. Egonek schrieb ihr von seinen Erlebnissen und
Eindrücken, von Land und Leuten, berichtete von Treffen mit Freunden
und Bekannten, auch Klatsch und Tratsch, stellte Fragen nach dem
Fortgang der Arbeit an seinen Werken, wollte wissen wie es Jarmila
inzwischen ergangen ist, ersuchte sie, im Bärenhaus bei der Mutter
nach dem Rechten zu sehen. Denn dort ging sie inzwischen auch ein
und aus, die »Frau Jarmila«, wie der Lieblingssohn der Mutter einst
seine Freundin vorgestellt hatte. Denn: Jarmila war seine große
Liebe. Sie war nach der Mutter - und später neben Gisl Lyner aus
Wien, die zunächst als Schreibkraft und Sekretärin für ihn
gearbeitet hatte - die einzige Frau, die tief in seinem Herzen einen
Platz hatte.
»...und laß Dich auf beide Wangen und Deine hübschen Ohren küssen
(auf den Mund hast Du es ja nicht gern) und schreib mir sofort einen
liebenswürdigen und fröhlichen Brief, damit ich nicht zu Dir kommen
und Dich im Berliner Zoo für den Affenkäfig mit der Aufschrift
abgeben muß ›Geschenk des Herrn Egon Erwin Kisch‹«, so beendete er
am 19. Oktober 1925 seinen Brief zu ihr nach Prag mit Neuigkeiten
aus Berlin.
Jarmila war eine ungewöhnliche Frau. In jungen Jahren besaß sie
offenbar eine faszinierende Anziehungskraft, vielleicht vergleichbar
mit Frauen wie Else Lasker, Claire Goll oder Alma Mahler. Obwohl sie
nicht der Typ gewesen ist, der Wirbel veranstaltete und sich in
Szene gesetzt hat. Vielmehr neigte sie immer wieder zu
Selbstzweifeln und Kisch mußte ihr oft genug Mut zusprechen fürs
Selbstvertrauen. Dennoch: An Verehrern und Verliebten mangelte es
nicht, ebenso wie an guten Freunden und Bekannten, die sie
schätzten: Anna Seghers, Leonhard Frank, Alfred Döblin, Joseph
Bornstein, John Heartfielt, Nico Rost, Maria Osten, ihr dichtender
Landsmann Ivan Olbracht, der tschechische Volksschauspieler
Vlastimil Burian, Arthur Holitscher...
Holitscher gehörte auch zu jenen, dem sie mit ihren
Sprachkenntnissen gedient und ins Tschechische übersetzt hat. Von
ihm das Reisebuch über die Sowjetunion Das unruhige Asien. Von Anna
Seghers Der Aufstand der Fischer von St. Barbara. Von Brecht ließ
sie sich bei dessen Prag-Aufenthalt im Hotel Europa die Genehmigung
für die Übersetzung des Stückes Die Gewehre der Frau Carrar geben,
damit es in der dramatischen Vor-Münchner Zeit in Prag aufgeführt
werden konnte. Und wie so manche Arbeit erledigte sie auch diese
Arbeiten ohne ein Honorar.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie zunächst für Kulturarbeit im
tschechoslowakischen Außenministerium engagiert, dann war sie wieder
in der Presse tätig: Redakteurin der Frauenzeitschrift
Ceskoslovenska Zena; Chefredakteurin der wieder gegründeten
legendären, in der Ersten Republik linksorientierten
Frauenzeitschrift »Roszévacka«, die mit dem Einmarsch der Deutschen
in Prag am 15. März 1939 eingestellt worden war und deren
Chefredakteurin im KZ Ravensbrück umgebracht worden ist; und
schließlich wurde sie Feuilleton-Chefin der populären
Wochenzeitschrift Kvety. Auch diese Arbeiten leistete sie, wie stets
in ihrem Leben, ohne viel Aufhebens davon zu machen.
Als ich in Prag mehrere Jahre als Zeitungs-Korrespondent ansässig
gewesen bin, lernte ich sie kennen. Ein Mann mit Pressegeschichte
hatte mich an sie empfohlen: Hermann Leupold, Chef für den Bildteil
der legendären Arbeiter-Illustrierte Zeitung aus der Weimarer
Republik, die nach Beginn der Hitlerdiktatur dann für einige Jahre
in Prag herausgegeben worden ist. Er war, so wie mit Kisch, auch mit
Jarmila aus gemeinsamer Arbeit in Berlin gut bekannt und befreundet.
Und auf diesem Wege schlossen auch wir, meine Familie und ich, mit
ihr - und ihrem Mann Vincek Necas, einem in Prag bekannten
Journalisten, mit dem sie 1938 die Ehe geschlossen hatte -
Bekanntschaft und im Laufe der Jahre eine herzliche Freundschaft.
Obwohl sie dem Jahrhundert-Journalisten Kisch als dessen Vertraute
auf ihre Art vermutlich ebensoviel bedeutet hat wie ihre
Jugendfreundin Milena Jesenska Franz Kafka, die weltberühmt geworden
ist durch seine Briefe an Milena, die nach Milena Jesenskas Tode von
Jarmilas zweitem Ehemann Willy Haas herausgegeben worden sind -
Jarmila ist bis zu ihrem Lebensende eine zurückhaltende, bescheidene
Frau geblieben. In aller Stille ist sie im August 1990 im Alter von
94 Jahren von dieser Welt gegangen.
Die letzte Ruhe hat sie in Prag gefunden. Neben Josef Reiner und
Vincenz Necas.
Der Schneidermeister
»Na, mit dem kannste bestimmt keine großen Sprünge machen, dachte
ich im ersten Augenblick, als ich ihn gesehen habe«, gesteht
Schneidermeister Siebert. »Doch dann hat alles so gut geklappt«,
fügt er sogleich hinzu, den ersten, falschen Eindruck korrigierend.
»Er trug gern Zweireiher, dunkle Anzüge. Wissen Sie, er wollte sie
immer sehr gut geschnitten haben, sehr gut verarbeitet - aber
möglichst unauffällig. Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack.«
Der Meister erinnert sich mit Freuden an den ehemaligen Kunden und
daran, wie er ihn kennen lernte in seinem Schneidersalon, der sich
in der Nähe des Potsdamer Platzes in Berlin befand. Ein Herr sei
gekommen, »so ein kleiner Dunkler«, habe ihm der Geselle eines Tages
gesagt. Als Meister Siebert daraufhin in den Laden ging, sei der
Unbekannte - ein Buch von Jack London in der Hand - lebhaft auf ihn
zugetreten und habe gefragt:
»Sagen Sie mal, lesen Sie das?«
»Selbstverständlich!« antwortete der Meister.
»Na, dann sind Sie mir symphatisch.«
Der neue Kunde, der seinen künftigen Schneidermeister solcherart
examiniert hatte, war Kisch. »Ich habe doch immer gern gelesen«,
fährt der Meister in seiner Erzählung fort. »Und ganz besonders gern
Jack London.« Kisch habe dann noch eine ganze Weile über seinen
amerikanischen Kollegen gesprochen und erzählt, dass er gerade an
einer Neuausgabe seiner Bücher mitarbeite. (Kisch verfaßte zu den
einzelnen Bänden - die 1927 bei Universitas, Deutsche
Verlagsaktiengesellschaft, Berlin, erschienen - kurze einführende
Klappentexte.)
Kisch habe zunächst einen Mantel bei ihm bestellt, sich allerdings
zuvor vergewissert: »Sie sind doch nicht etwa so eine Apotheke?« -
Apotheke - das war zu jener Zeit die vornehme Umschreibung für ein
teures Geschäft, für gepfefferte Preise. Meister Rudolf Siebert
konnte Kisch beruhigen: »Nein, nein! Sie werden mit mir zufrieden
sein. Ich mache das so, dass es Ihnen nicht weh tut!« Als er den
Mantel fertig hatte, Kisch mit der Arbeit tatsächlich zufrieden war
und nun auch einen Anzug bestellte, unterbreitete ihm der
Bücherfreund Siebert einen Vorschlag:
»Wissen Sie, Herr Kisch, wir können ein Geschäft zusammen machen.
Sie geben mir die Bücher, die Sie herausbringen oder die Sie
schreiben, und ich mache Ihnen das, was Sie brauchen, zum
Selbstkostenpreis.«
So haben die beiden es dann tatsächlich auch gehalten.
Schneidermeister Siebert lacht. »Manches Buch habe ich von Kisch
bekommen, mit schönen und originellen Widmungen. In das Amerikabuch
hat er mir beispielsweise geschrieben: ›Dem nicht nur maßnehmenden,
sondern auch maßgebenden und so weiter...‹«
Mit jedem Anzug, den Rudolf Siebert für Kisch schneiderte, wurde das
Verhältnis zwischen den beiden herzlicher und vertrauter. »Egon -
ich habe bloß Egon zu ihm gesagt, nein, wir haben uns nicht geduzt,
aber wir haben uns mit den Vornamen angeredet - Egon hat oft mit
meiner kleinen Tochter gespielt und ihr was vorgezaubert. Sie wissen
doch, er kannte allerhand Zauberkunststücke und hat Kinder sehr gern
gehabt.«
Häufig hätte er sich mit Kisch auch über politische Fragen
unterhalten. Kischs Art zu erzählen, Tatsachen und Zusammenhänge
darzulegen, sei imponierend gewesen. »Um was es auch ging, man
spürte, dass er Kommunist war. Für ihn gab es gar nichts anderes«,
konstatiert der Schneidermeister.
Durch ein tragisches Unglück ist Kischs Zeitgenosse vor einiger Zeit
aus dem Leben gerissen worden. Geblieben aber ist uns sein Urteil:
»Kisch war ein wunderbarer Mensch.« |
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